Der Wellenreiter
                          Wirtschaftsthemen der Zeit

 

   

19. August 2005

Babylon und Börsenboom
 

Über den Zusammenhang zwischen Börsenboom und der Jagd nach dem Wolkenkratzer-Höhenrekord gibt es viele Meinungen, aber kaum Analysen. Wir hoffen, mit den nachfolgenden Zeilen diese Lücke zu füllen. Das Ergebnis vorab: In den meisten Fällen kann ein Zusammenhang nachgewiesen werden, der durch den folgenden Ablauf gekennzeichnet ist:

Die Planung von Wolkenkratzern erfolgt in einer Zeit starker Börsenrallies bzw. im Umfeld einer Börseneuphorie. Die Auslastungsquote wird meist viel zu optimistisch angesetzt. Noch während der Bauphase erreicht die Börseneuphorie ihren Höhepunkt. Zur Fertigstellung hat sich die Börse noch nicht wieder vom wirtschaftlichen Abschwung erholt, oft steht das Gebäude jahrelang halb leer. Beispielsweise hatte das Empire State Building in den 30er Jahren den Spitznamen „Empty State Building“ verpasst bekommen. Den genannten Ablauf werden wir in der Folge Normalschema nennen.

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Der erste Wolkenkratzer wurde 1885 fertiggestellt. Es war das Home Insurance Building in Chicago mit einer Höhe von 42 Metern. Doch der Appetit auf Weltrekorde begann erst mit der Planung des Manhattan Life Insurance Buildings in New York um 1891. Man wollte das erste Hochhaus bauen, dass die 100-Meter-Marke übertraf. Das Manhattan Life Insurance Building wurde 1894 mit einer Höhe von 106 Metern vollendet. Die Fertigstellung erfolgte in einer Phase der Depression, nachdem der Aktienmarkt im Mai 1893 in einer Panik zusammengebrochen war. Man sprach damals an der New Yorker Börse vom „Industrial Black Friday“ (5. Mai 1893). Fazit: Das Normalschema stimmt.

1895 (die Wirtschaft hatte sich keineswegs von der Panik erholt) begann die Planung für das Park Row Building in New York. Es wurde 1899 mit einer Höhe von 119 Metern eröffnet. Die Aktienkurse stiegen von 1896 bis 1899 in einer Art „Jahrhundert-Endrally“ – wie diese auch Ende des 18ten und Ende des 20ten Jahrhunderts der Fall war. Fazit: Die Planer waren mutige Leute, die auch in einer wirtschaftlich schlechten Phase das Geld zusammenbekamen und den Bau – wohl unter dem Eindruck des bevorstehenden Jahrhundertwechsels – durchzogen. Hier lässt sich nicht vom Normalschema sprechen.

Zwischen 1903 und 1905 verdoppelte sich der Dow Jones Index. Der Besitzer der Singer-Nähmaschinen-Fabrik begann 1905 mit den Planungen des „Singer Buildings“ in New York, die Fertigstellung erfolgte im Jahre 1908. Das Hochhaus maß 187 Meter und übertraf damit die Höhe des Park Row Building mit einigem Abstand. Ein Jahr vor der Vollendung des Baus - im Oktober 1907- traf die New Yorker Börse eine der heftigsten Paniken überhaupt. Der alterwürdige J.P. Morgan rettete die Börse nach einem Gespräch mit dem US-Präsidenten, als er mit dem Kauf von Aktien begann und im andere folgten.

Das Singer-Building verlor seinen Status als höchstes Gebäude der Welt schon ein Jahr später an den „Met Life Tower“ (213m), dessen Bau 1907 – noch vor dem Aktienmarktcrash - beauftragt wurde. Fazit: Das Normalschema stimmt in beiden Fällen.

Kurz vor dem Dekadenwechsel 1909/10 wollte sich Frank Woolworth den Höhenrekord mit dem Bau seiner Hauptverwaltung am Broadway holen. Er beauftragte den Bau des Woolworth-Buildings (241m) im Jahr 1910, als sich der Dow Jones Index in der Nähe eines 4-Jahres-Hochs befand. Das Gebäude wurde 1913 fertig gestellt; es sollte den Höhenweltrekord für 17 Jahre behalten. Der Aktienmarkt befand sich 1913 unterhalb des Niveaus von 1910; nur ein Jahr später brach der erste Weltkrieg aus und die New Yorker Börse wurde für ein halbes Jahr komplett geschlossen. Fazit: Auch hier trifft das Normalschema zu.

Die Börseneuphorie der 20er Jahre leitete einen bisher nicht gekannten Wettlauf um das höchste Gebäude der Welt ein. Gleich drei Gebäude (40Wall St.; Chrysler Building; Empire State Building) wetteiferten um den Titel des höchsten Wolkenkratzers der Welt. Alle drei Gebäude wurden 1928 bzw. 1929 vor dem Crash beauftragt. Der Wettlauf sorgte für ein extrem schnelles Bautempo. Die Gebäude wurden in der Reihenfolge 40Wall St (1930), Chrysler Building (1930; 282m ohne Aufbauten) und Empire State Building (1931; 381m ohne Aufbauten) fertig gestellt. Alle drei Gebäude hielten den Höhenweltrekord, die beiden ersten jeweils für kurze Zeit, das Empire State Building für 42 Jahre. Fazit: Normalschema mit zusätzlich extremen Wettbewerbsdruck.

Der zweite Weltkrieg zerstörte weitere hochfliegende Pläne, auch diejenigen von Albert Speer für den Bau der Ruhmeshalle in Berlin, die 320m hoch werden und 180.000 Menschen Platz bieten sollte.

Als David Rockefeller der New York Port Authority zu Beginn der 60er Jahre den Bau eines World Trade Centers vorschlug und es 1962 zu einem Architektenwettbewerb kam, dachte man noch an ein 50- bis maximal 90-stöckiges Gebäude. Erst kurz vor Baubeginn im Jahr 1966 wurde entschieden, die Twin Towers zu den höchsten Gebäuden der Welt zu machen. Im Januar 1966 erreichte der seit 1949 laufende Nachkriegsbullenmarkt seinen Höhepunkt. Die Fertigstellung des ersten Turms (417m) erfolgte 1972, die des zweiten – gleich hohen - Turms ein Jahr später.

Bereits 1974 übernahm der Sears Tower (443m) in Chicago die Position des höchsten Gebäudes. Die Einzelhandelskette Sears war damals der größte Retailer weltweit und entschied im Jahre 1969 - als der Dow Jones Index das Hoch aus dem Jahr 1966 nur knapp verfehlte – alle Angestellten der Region in einem Gebäude unterzubringen und das World Trade Center zu übertrumpfen. Sowohl die Twin Towers in New York als auch der Sears Tower in Chicago hatten über die nächsten – wirtschaftlich schweren – Jahre eine hohe Leerstandsquote. Auch in diesen beiden Fällen stimmt das Normalschema, sogar die Wettbewerbsituation vom Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre wiederholte sich.

Ausgerechnet Malaysia machte sich zu Beginn der 90er Jahre daran, den Sears Tower als höchstes Gebäude der Welt abzulösen. Baubeginn der „Petronas Towers“ (umstrittene 452m) war im Jahr 1993, vollendet wurden der Bau ausgerechnet im Jahr der Asienkrise 1998. Wie der folgende Chart des malaysischen Aktienmarktindex zeigt, wurde der Stand der 90er Jahre noch nicht wieder erreicht.



Auch hier wiederholte sich der aus den USA bekannte Ablauf der Entscheidung für einen solchen Bau in einer Börsenhochphase und der Eröffnung in einer Rezession/Depression. Das Normalschema stimmt.

Ob die Petronas Towers den Sears Tower tatsächlich überragen, kann man nach diversen Kriterien anzweifeln. Hingegen erfüllt das 2003 vollendete „Taipeh 101“-Gebäude (509m) alle Kriterien. Baubeginn war 1997, als sich der taiwanesische Leitindex TSEC auf Rekordhoch bei 10.000 Punkten befand.



Fertig gestellt wurde der Bau im Jahr 2003, unbestritten inmitten einer schwierigen wirtschaftlichen Phase. Der TSEC hatte sich seit 1997 mehr als halbiert. Auch hier lässt sich das Normalschema anwenden.

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Wenden wir uns der Zukunft zu und schauen uns die Zeitpläne für diejenigen Gebäude an, die für einen neuen Höhenweltrekord in Frage kommen.

Zunächst vielleicht die Anmerkung, dass sich keine deutsche Stadt – auch nicht Frankfurt – an der Rekordjagd beteiligt. Der Commerzbank-Turm steht mit 259m auf Platz 72 und der Messeturm (257m) auf Platz 77 der Liste der höchsten Gebäude der Welt. In der europäischen Rangfolge stehen die Frankfurter Türme an zweiter und dritter Stelle. Nur der Ende 2003 in Moskau eröffnete Triumph-Palace überragt beide. Es gibt Pläne für einen Wolkenkratzer in London, der den Triumph-Palace ausstechen soll. Anmerkung: Auch der Messeturm wurde in einer Rezession (1991) eröffnet.

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Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird der „Burj Dubai“ (Turm von Dubai) bald alle anderen Wolkenkratzer mit weitem Abstand überragen. Die Höhe soll 705 Meter betragen, die Fertigstellung ist für das Jahr 2008 geplant. Das Gebäude befindet sich seit September 2004 im Bau. Der am früheren Ort des World Trade Centers geplante Freedom Tower soll hingegen „nur“ 547m hoch werden. 547m entsprechen 1776 Fuß und repräsentieren damit das Geburtsjahr der Vereinigten Staaten von Amerika. Eine nachträgliche Höhenveränderung erscheint deshalb ausgeschlossen. Der Bau soll 2006 beginnen und 2010 vollendet sein. Damit scheint festzustehen, dass das amerikanische Jahrhundert der „Wolkenkratzer-Vorherrschaft“ im Jahr 1998 mit der Eröffnung der Petronas Towers zu Ende ging.

Bleibt als Wettbewerber des „Burj Dubai“ noch das „Shanghai World Financial Center“ im Rennen. Die Eröffnung ist für 2007 geplant, die Höhe soll 492m betragen. Damit wird das „Shanghai W.F.C.“ für voraussichtlich ein Jahr die Höhenrekord-Krone innehaben, bevor sie der „Burj Dubai“ im Jahr 2008 übernimmt. Der Baubeginn des Shanghai W.F.C war bereits 1995; nach einer zwischenzeitlichen Einstellung des Baus wegen Problemen mit dem Untergrund werden die Bauarbeiten seit 2003 fortgesetzt.

Zwischenfazit: Die Jagd nach Höhenweltrekorden folgt einem Normalschema. Baubeginn ist in der Regel in einer bullischen oder gar euphorischen Aktienmarktphase, die Fertigstellung erfolgt fast ausschließlich in einer Phase wirtschaftlicher Rezession oder gar Depression. Ist es nicht genauso interessant wie bedenklich, dass in den Jahren 2007 und 2008 die Fertigstellung von zwei Gebäuden ansteht, die jeweils einen neuen Höhenweltrekord aufstellen werden?

Es ist kein Zufall, dass die Jagd nach dem Höhen-Weltrekord in zwei Städten stattfindet, in denen derzeit Infrastrukturmaßnahmen mit bis vor kurzem unvorstellbaren Ausmaßen ausgeführt werden. In Shanghai werden ganze Stadtviertel umgesiedelt und neu bebaut, an der Peripherie entstehen Neubausiedlungen. Slumähnliche Behausungen am Standrand sind dennoch keine Seltenheit.

Noch beeindruckender liest sich jedoch, was sich derzeit in Dubai abspielt. Es ist nicht nur der „Burj Dubai“ (Kostenpunkt incl. der umliegenden Infrastruktur 8 Mrd. US-Dollar), sondern auch die Aufschüttung ganzer Inselgruppen, die derzeit vor der Küste Dubais im Gange ist. Allein dort werden 5 Mrd. US-Dollar verbaut. Weitere Großprojekte sind die „Dubai Marina“ – eine Stadt in der Stadt für etwa 100.000 Einwohner, deren Errichtung 4 Mrd. Dollar kostet - sowie der Freizeitpark „Dubailand“, in den 5 Mrd. Dollar investiert werden. Diese 4 Projekte zusammen verschlingen mehr als 20 Mrd. Dollar. Zum Vergleich: In den deutschen Bundeshaushalt wurden 2004 etwa 24 Mrd. Euro für „Verteidigung“ eingestellt. Hinzu kommt, dass in Dubai im Jahr 2006 mit dem Bauprojekt „Dubai Waterfront“ begonnen werden soll. Auf 440 qkm werden 10 Stadtteile für insgesamt 750.000 Menschen errichtet. Dubai im Größenwahn? Ein Signal für das Erreichen einer historischen Dimension?

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Beim Stichwort „historische Dimension“ kommen einem unwillkürlich der Turmbau zu Babel („Babylon“) sowie der Bau der ägyptischen Pyramiden in den Sinn. Die größte aller Pyramiden – die Cheops-Pyramide – war ursprünglich 147m hoch. Sie wurde in der Blütezeit des „alten Reiches“ – zur Zeit der 4. Dynastie ca. 2580 v. Chr. – errichtet. Diese Dynastie bedeutete nicht nur den Höhepunkt der altägyptischen Baukultur, sondern auch die Hochblüte des ägyptischen Staatswesens und der ägyptischen Kunst. Wie der Historiker Toynbee in seinem Werk „Studie zur Weltgeschichte“ schrieb, begann der Abstieg des altägyptischen Reichs während des Übergangs von der fünften zur sechsten Dynastie im Jahr 2424 v. Chr. - seit dem Bau der Cheops-Pyramide waren etwa 150 Jahre vergangen. Das ägyptische Königreich brach in viele kleinere Staaten auseinander. Es folgte eine Zeit der Wirren, die erst 400 Jahre später - mit dem Beginn des Zeitalters des „mittleren Reiches“ - endete.

Der Turmbau zu Babel ist keine Erfindung der Bibel, sondern existierte tatsächlich. 1913 grub ein deutscher Forscher die Fundamente des Turms aus, der als Tempelanlage vom babylonischen König Nebukadnezar II. (604 bis 562 v. Chr.) in der Blütezeit des neubabylonischen Reiches errichtet wurde. Die Höhe betrug nach heutigen Schätzungen 91 Meter. Im Jahre 539 v. Chr. endete die letzte Blütezeit des babylonischen Reiches; die Eroberung Babylons durch den Perserkönig Kyros II. machte das Reich zu einer persischen Provinz.

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Dubai ist auf Öl und Sand gebaut. Nimmt man das Öl weg, bleibt nichts als Sand. Man kann die gegenwärtigen Infrastrukturmaßnahmen als fast schon verzweifelten Versuch der Diversifikation weg vom Öl betrachten. Handel und Tourismus sollen als Ersatzeinnahme-quellen aufgebaut werden. Es ist eine gigantische Wette der Herrschenden auf den Machterhalt auch über das Ölzeithalter hinaus. Ob sie aufgeht? Historisch betrachtet scheinen die Chancen dafür gering.

Robert Rethfeld
 

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Robert Rethfeld
 

 

 

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