Der Wellenreiter
                          Wirtschaftsthemen der Zeit

 

   

23. Juni 2007
"Full House Sell Signal"

Am 4. Juni gab Morgan Stanley ein so genanntes „Full House Sell Signal“ für den europäischen Aktienmarkt heraus. Das dreistufige Signal hätte seit 1980 lediglich fünfmal Alarm geschlagen, so die Analysten. Daraufhin wären die Aktienmärkte jedes Mal deutlich gefallen, im Durchschnitt um 15 Prozent. Zwei der fünf Signale wären im September 1987 und im April 2002 ausgelöst worden.

Die Studie wurde in der Presse ausgiebig zitiert und als Grund für einen Selloff angeführt, der nach Veröffentlichung der Studie stattfand.

Im Nachhinein interessant ist die Tatsache, dass die Veröffentlichung dieser Studie tatsächlich auf den Tag genau das bisherige Verlaufshoch im Dow Jones Index und im S&P 500 traf.

In den meisten Meldungen fehlte jedoch eine wichtige Zusatzinformation. Nur Reuters stieg tiefer in die Materie ein und schrieb, dass ein weiteres Element des Modells das Full House Sell Signal momentan nicht zu 100 Prozent glaubwürdig erscheinen lasse: „Erst wenn das Sentiment bullisch wird, dürfte sich das Full House Sell Signal tatsächlich verwirklichen“, wurde der zuständige Analyst zitiert.
http://investing.reuters.co.uk/news/articleinvesting.aspx?type=managerViews&storyID=2007-06-11T074714Z_01_NOA127848_RTRUKOC_0_CITYWIRE-MORGAN-STANLEY.xml

 Also sollten wir der Frage nachgehen, ob sich das Sentiment seit dem Erscheinen der Studie vor drei Wochen verändert hat, und wenn ja, in welche Richtung. Hier die Fakten: Das durch „Ticker Sense“ gemessene Sentiment der Internet-Blogger befand sich um den vierten Juni herum bei 34 Prozent. In der letzten Woche waren 50% der Blogger bullisch. Die American Association of Individual Investors (AAII) maß damals 33 Prozent Bullen, in der vergangenen Woche waren des 43 Prozent. Weitgehend unverändert blieb die Zahl der bullisch eingestellten US-Börsenbriefschreiber (54,3% damals zu 53,3% aktuell). Investors Intelligence stellte aber auch fest, dass der Anteil der Bären in den letzten Wochen deutlich zurückgegangen ist (von 22,8 auf jetzt 18,9 Prozent). Zudem beherrschten in Deutschland in den vergangenen beiden Wochen zunehmend bullische Schlagzeilen und Titelblätter die Fach- und Publikumspresse.

Im Klartext: Das Sentiment ist seit dem 4. Juni spürbar bullischer geworden. Ironischerweise ist der Zinssatz der 10jährigen US-Bonds seitdem deutlich gestiegen. Auch der Ölpreis konnte seit dem 4. Juni um drei US-Dollar zulegen. Wie das zusammenpasst: Gar nicht, aber die kaum berechenbare Sprunghaftigkeit der Marktteilnehmer ist ja seit jeher das Salz in der Suppe. Man muss nicht unbedingt verstehen, warum Sie etwas tun, sondern sehen, was sie tun.

Ein weiterer Unterschied zum 4. Juni: Zum damaligen Zeitpunkt war weit und breit kein Hindenburg-Omen in Sicht. In den letzten acht Tagen ergaben sich gleich drei dieser Signale (zwei davon am Donnerstag und Freitag), die nach stark ansteigenden Märkten einen deutlichen Anstieg der Distribution anzeigen.

Die starken Hände lassen ihre Aktien in schwache Hände übergehen: „Die Fische werden gefüttert“. Das bezeugt das am Freitag an der NYSE gemessene Handelsvolumen: Mehr als 2,6 Mrd. Aktien wurden umgesetzt. Ein solcher Wert wurde seit Jahren nicht mehr erreicht. Das kuriose: Es gab keine Panik, denn das Abwärtsvolumen betrug lediglich 71 Prozent. In einer Panik sind Abwärtsvolumina von 90% oder mehr üblich. Anscheinend lassen sich die Fische derzeit gern füttern.

Fazit: Das war kein schlechtes Timing von Morgan Stanley. Seit der Veröffentlichung der Studie ist das Sentiment insgesamt bullischer geworden. In Deutschland war zum ersten Mal seit Jahren wieder eine gewisse Euphorie spürbar, die man allerdings nicht mit derjenigen aus dem Jahr 2000 vergleichen kann. Aber das sollte man nicht erwarten und ist auch für eine Top-Bildung der Märkte nicht notwendig. Die Märkte befinden sich aktuell im „reifen“ Abschnitt des Bullenmarktes, in dem die Volatilität weiter zunehmen dürfte. Wir sind der Meinung, dass sich die Märkte in den kommenden Wochen nach unten orientieren werden. Entscheidend ist, dass man aktuell Distribution in einem Maße und über einen Zeitraum beobachten kann, wie das schon lange nicht mehr der Fall war.

Robert Rethfeld
Wellenreiter-Invest

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