Der Wellenreiter
                          Wirtschaftsthemen der Zeit

 

   

24. September 2004
 

Vierter Sektor, übernehmen Sie!?

 

Der Nachrichtensprecher eines Radiosenders verlas die Meldung mit stoischer Ruhe: Quelle schließt sein Call Center in Mainz (200 Mitarbeiter werden entlassen) und eröffnet stattdessen eines in der Türkei.

 

Es ist nicht die erste solcher Schlagzeilen (auch Dell hat vor einiger Zeit ein Call-Center in Bratislava eröffnet), und doch machen diese immer wieder deutlich, wie anfällig auch der Dienstleistungssektor für Jobverlagerungen ins Ausland ist.

 

Die störrisch hohe Arbeitslosigkeit erscheint uns als das Kernproblem unserer heutigen, gesättigten  Gesellschaft. Wie in der Wellenreiter-Spezialausgabe vom vergangenen Montag aufgezeigt (die Resonanz war übrigens groß), kann Arbeitslosigkeit Wahlpräfe-renzen maßgeblich beeinflussen. Die Entscheidung für die Mitte bzw. den linken oder den rechten Rand des Parteienspektrums beeinflusst wiederum das Wirtschaftssystem (mehr Staat oder weniger Staat?). Dies wiederum hat Einfluss auf die Entwicklung der Börsenmärkte.
 

Das Problem der Arbeitslosigkeit lässt sich wie folgt auf einen Nenner bringen: Es gibt keinen vierten Sektor, der die Arbeitslosen - besonders aus dem sekundären und tertiären Sektor - aufnehmen kann. In unserem Buch "Weltsichten/Weitsichten" haben wir die Entwicklung der Arbeit anhand des primären bis tertiären Sektors nachgezeichnet und werfen anschließend einen Blick nach vorn.

 

Zitat aus unserem Buch: "Deutschland um 1882. Es war die Zeit der beginnenden Industrialisierung. Freizeit im heutigen Sinne war kaum bekannt, wenn man einmal vom Sonntag als weitgehend arbeitsfreien Tag absieht. Die Mehrheit der Erwerbstätigkeit fand im landwirtschaftlichen (primären) Sektor statt.

Die gerade entstehenden Fabriken boten wetterunabhängige Arbeit bei für damalige Verhältnisse hohen Löhnen. Dies zog die Landarbeiter in die Städte. In nachfolgender Erwerbstätigenstatistik für Deutschland zeigt sich, dass der Anteil der Erwerbstätigen im primären Sektor bereits 1882 in die Nähe der 40 Prozent-Marke rutschte.

 

 

33 Prozent der Erwerbstätigen fanden in der aufstrebenden Industrie (sekundärer Sektor) Brot und Arbeit, während der Anteil des tertiären Sektors (Dienstleistungen) an der Erwerbstätigkeit ein gutes Fünftel betrug.

Die Industrialisierung setzte sich nach dem Ende des ersten Weltkrieges unvermindert fort. Die Produktion von Massenkonsumgütern ließ den sekundären zum größten Sektor werden. 1925 fanden sich 2 von 5 Arbeitnehmern dort wieder.

In jener Zeit begannen sich die Bedürfnisse der Menschen drastisch zu verändern, ähnlich wie dies heute in China der Fall ist. Die zunehmende Verstädterung und die geregelte Arbeitszeit führten zu einer erhöhten Nachfrage nach Wohnungen, Fortbewegungsmitteln, Mobiliar, Haushaltsartikeln und Freizeitangeboten. Es ist kein Wunder, dass viele der „Eckkneipen“ in der damaligen Zeit entstanden sind.

Das Wirtschaftswunder nach dem zweiten Weltkrieg ist maßgeblich der weiteren Industrialisierung zu verdanken. Für Deutschland bestimmte die Auto- und Maschinenindustrie das Tempo. 1970 arbeitete jeder zweite Erwerbstätige in der Industrie. Mit dem Ende des Wirtschaftswunders in den 70er Jahren begann sich der Anteil des sekundären Sektors an der Erwerbstätigkeit abzuschwächen. Im Jahr 2000 wurde nur noch jeder dritte Erwerbstätige diesem Sektor zugerechnet.

Der Dienstleistungssektor hat mit einem Anteil von 64,2 Prozent das Regime übernommen. Der primäre Sektor dagegen ist zur Bedeutungslosigkeit verkommen. In ihm erzielten im Jahr 2000 noch 2,7 Prozent aller Erwerbstätigen ihr Einkommen.

Der Trend von der Industrialisierung zur Dienstleistung in den entwickelten Ländern ist eine Auswirkung der Globalisierung. Während die Fabrik ins Ausland verlagert wird, verbleiben Management und Verwaltung im eigenen Land. Die Globalisierung wiederum ist die Folge unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems und der damit einher gehenden Entstehung und Konzentration multinationaler Unternehmen.

Mit dem Abbau von Handelsschranken, dem Verfall von Telekommunikationstarifen, dem Aufkommen des Internets, der allgemeinen Anerkennung einer einheitlichen Geschäftssprache (Englisch) und der enormen Bereitschaft zum Lernen in den Schwellenländern wurde das globale wirtschaftliche Betätigungsfeld eingeebnet. Doch wesentliche Unterschiede bleiben bestehen: Der gravierenste ist die Entlohnung der Arbeitnehmer für eine vergleichbare Tätigkeit. Ein weiterer ist die Bereitschaft in Ländern wie China, sich als Arbeitnehmer total in den Dienst der Firma zu stellen.

Multinationale Unternehmen werden im Rahmen interner Optimierungsprozesse immer danach streben, Güter dort zu erstellen, wo die Produktionsfaktoren preiswert sind. Und sie werden die Güter dort verkaufen wollen, wo die relativ gesehen höchsten Preise erzielt werden können. Aus dieser Differenz speist sich grob gesprochen der Profit. Die höchsten Preise für die Produkte werden dort erzielt, wo die Kaufkraft am höchsten ist. Das ist derzeit in den USA der Fall, gefolgt von Europa.

Die Verlagerung der Arbeit in die Schwellenländer wird so lange erfolgen, bis entweder Handelsschranken wieder errichtet werden oder Lebensstandard und Kaufkraft in den Schwellenländern derart ansteigen, dass die Unterschiede in der Entlohnung vernachlässigbar sind. Beides ist in den kommenden Jahren nicht zu erwarten.

An dieser Stelle müssen wir konstatieren, dass der Trend zum Verlust von Industriearbeitsplätzen in absehbarer Zeit nicht aufzuhalten ist. Der primäre Sektor (Landwirtschaft) ist auch keine Alternative. Rettet uns der tertiäre Sektor?

Gerade hier sind die Arbeitslosenzahlen in den vergangenen Jahren rasant angestiegen. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise ist in erster Linie eine Krise des Kapitals. Von Arbeitslosigkeit betroffen sind insbesondere Banken, Versicherungen, Medien, Einzelhandel, Telekommunikation, Software.

Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Jeremy Rifkin konstatiert denn auch in seinem Buch „Das Ende der Arbeit“: „Wenn in der Vergangenheit in einem Wirtschaftssektor durch eine technologische Revolution die Mehrzahl der Arbeitsplätze verloren zu gehen drohte, entstand immer rechtzeitig ein neuer Sektor, der die überschüssigen Arbeitskräfte aufnahm. Viele Millionen Menschen, die durch die schnelle Mechanisierung der Landwirtschaft arbeitslos geworden waren, fanden Unterschlupf in der aufblühenden Industrie. Als diese von der Automatisierung erfasst wurde, wanderten die Arbeiter in den schnell wachsenden Dienstleistungsbereich ab. Heute aber, da alle diese Sektoren neuerlichen Umstrukturierungen und einer weiteren Automation ausgesetzt sind, gibt es keinen Bereich mehr, der die Abermillionen Arbeitslosen aufnehmen könnte“ .

Rifkin sieht in der zunehmenden Anwendung technologischer Errungenschaften (grob gesagt der Ersatz des Menschen durch Maschinen) die große Gefahr und bezieht sich dabei auf Karl Marx. „Schon Marx vertrat die These, dass Unternehmer immer bestrebt seien, die Lohnkosten zu senken und die Produktionsmittel soweit als möglich in ihre Verfügungsgewalt zu bekommen. Sie ersetzen daher, wo immer möglich, Menschen durch Maschinen. Marx sagte voraus, dass die wachsende Automatisierung schließlich alle Arbeiter überflüssig machen würde. Nach Marx’ Theorie graben sich die Unternehmer aber ihr eigenes Grab, wenn sie fortdauernd menschliche durch maschinelle Arbeitskraft ersetzen, da auf diese Weise die Arbeiter nicht mehr genügend Kaufkraft hätten, um sich noch irgendwelche Produkte leisten zu können .

Dieser Prozess schädigt nicht nur die Arbeitnehmer, sondern letztendlich die Unternehmen selbst. Interne Kostensenkungsmaßnahmen können zwar ein Unternehmen wettbewerbsfähiger gestalten, nicht jedoch den Umsatz erhöhen. Es entsteht ein Teufelskreis aus Kostensenkungen, daraus folgenden Entlassungen, daraus folgenden Kaufkraftverlusten und wiederum daraus folgenden Kostensenkungen.

Welche Lösung schlägt Rifkin zur Bewältigung dieser Probleme vor? Er sieht die Menschheit endlich an ihrem Ziel angelangt: Der komplette Ersatz von Menschen durch Maschinen führt dazu, dass sich die Menschen von den Zwängen des Marktes befreien und ihre Zeit mit ehrenamtlichen Tätigkeiten in Non-Profit-Organisationen verbringen.

 

Diese Vision erscheint in einem marktwirtschaftlichen System unrealistisch. Das Heer der Menschen, die keinen Mehrwert (im kapitalistischen Sinne) produzieren, würde dramatisch ansteigen. Schon heute beträgt die Erwerbsquote in Deutschland ca. 40 Prozent. Sie schwankte in den vergangenen 100 Jahren bemerkenswert konstant zwischen 40 und 50 Prozent, bezogen auf die ständige Wohnbevölkerung. Gemäß Rifkin würde diese Quote fallen müssen. Noch weniger Menschen würden einen volkswirtschaftlich relevanten Mehrwert produzieren.

Die zweite mögliche Vision ist düsterer: Die gesellschaftlichen Gegensätze verschärfen sich. Einige wenige Megareiche stehen einem Millionenheer an Arbeitslosen gegenüber."


Soweit der Ausschnitt aus unserem Buch. Fazit: Die Lösungsmöglichkeiten sind bescheiden. Den primären Sektor zu stärken, erscheint illusionär, von einer Bewegung "Back auf den Bauernhof" hat vermutlich noch niemand etwas gehört. Der Stärkung des sekundären Sektors (Industrieproduktion) kann nicht gelingen, so lange das Kostenniveau in den Schwellenländern geringer ist als in den Industrieländern. Das wird noch viele Jahre der Fall sein. Im Grunde genommen haben die Industrieländer keine andere Chance, als den tertiären Sektor wieder anzuschieben. Also noch stärkeres Gewicht auf IT, Banken und McDonalds und hoffen, dass den "Dells" und "Quelles" dieser Welt nicht allzu viele Firmen folgen. Die Alternative: Weiter steigende Arbeitslosigkeit. Die Konsequenzen für unser marktwirtschaftliches und politisches System wären bitter.
 

Robert Rethfeld
Wellenreiter-Invest

 

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Robert Rethfeld
 

 

 

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