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Vierter Sektor, übernehmen Sie!?
Der Nachrichtensprecher eines
Radiosenders verlas die Meldung mit stoischer Ruhe:
Quelle schließt sein Call Center in Mainz (200 Mitarbeiter werden entlassen) und
eröffnet stattdessen eines in der Türkei.
Es ist nicht die erste solcher Schlagzeilen (auch Dell hat vor einiger Zeit ein Call-Center
in Bratislava eröffnet), und doch machen diese immer wieder deutlich, wie anfällig auch der Dienstleistungssektor
für Jobverlagerungen ins Ausland ist.
Die störrisch hohe
Arbeitslosigkeit erscheint uns als das Kernproblem unserer heutigen, gesättigten
Gesellschaft. Wie in der
Wellenreiter-Spezialausgabe vom vergangenen Montag aufgezeigt (die Resonanz
war übrigens groß), kann Arbeitslosigkeit Wahlpräfe-renzen maßgeblich
beeinflussen. Die Entscheidung für die Mitte bzw. den linken oder den rechten
Rand des Parteienspektrums beeinflusst wiederum das Wirtschaftssystem (mehr
Staat oder weniger Staat?). Dies wiederum hat Einfluss auf die Entwicklung der
Börsenmärkte.
Das Problem der
Arbeitslosigkeit lässt sich wie folgt auf einen Nenner bringen: Es gibt keinen
vierten Sektor, der die Arbeitslosen - besonders aus dem sekundären und
tertiären Sektor - aufnehmen kann. In unserem Buch
"Weltsichten/Weitsichten" haben wir die Entwicklung der Arbeit anhand des
primären bis tertiären Sektors nachgezeichnet und werfen anschließend einen
Blick nach vorn.
Zitat aus unserem Buch:
"Deutschland um 1882. Es war die Zeit der beginnenden Industrialisierung.
Freizeit im heutigen Sinne war kaum bekannt, wenn man einmal vom Sonntag als
weitgehend arbeitsfreien Tag absieht. Die Mehrheit der Erwerbstätigkeit fand im
landwirtschaftlichen (primären) Sektor statt.
Die gerade entstehenden Fabriken boten wetterunabhängige Arbeit bei für damalige
Verhältnisse hohen Löhnen. Dies zog die Landarbeiter in die Städte. In
nachfolgender Erwerbstätigenstatistik für Deutschland zeigt sich, dass der
Anteil der Erwerbstätigen im primären Sektor bereits 1882 in die Nähe der 40
Prozent-Marke rutschte.
33 Prozent der Erwerbstätigen fanden in der
aufstrebenden Industrie (sekundärer Sektor) Brot und Arbeit, während der
Anteil des tertiären Sektors (Dienstleistungen) an der Erwerbstätigkeit
ein gutes Fünftel betrug.
Die Industrialisierung setzte sich nach dem Ende des ersten Weltkrieges
unvermindert fort. Die Produktion von Massenkonsumgütern ließ den
sekundären zum größten Sektor werden. 1925 fanden sich 2 von 5
Arbeitnehmern dort wieder.
In jener Zeit begannen sich die Bedürfnisse der Menschen drastisch zu
verändern, ähnlich wie dies heute in China der Fall ist. Die zunehmende
Verstädterung und die geregelte Arbeitszeit führten zu einer erhöhten
Nachfrage nach Wohnungen, Fortbewegungsmitteln, Mobiliar,
Haushaltsartikeln und Freizeitangeboten. Es ist kein Wunder, dass viele
der „Eckkneipen“ in der damaligen Zeit entstanden sind.
Das Wirtschaftswunder nach dem zweiten Weltkrieg ist maßgeblich der
weiteren Industrialisierung zu verdanken. Für Deutschland bestimmte die
Auto- und Maschinenindustrie das Tempo. 1970 arbeitete jeder zweite
Erwerbstätige in der Industrie. Mit dem Ende des Wirtschaftswunders in den
70er Jahren begann sich der Anteil des sekundären Sektors an der
Erwerbstätigkeit abzuschwächen. Im Jahr 2000 wurde nur noch jeder dritte
Erwerbstätige diesem Sektor zugerechnet.
Der Dienstleistungssektor hat mit einem Anteil von 64,2 Prozent das Regime
übernommen. Der primäre Sektor dagegen ist zur Bedeutungslosigkeit
verkommen. In ihm erzielten im Jahr 2000 noch 2,7 Prozent aller
Erwerbstätigen ihr Einkommen.
Der Trend von der Industrialisierung zur Dienstleistung in den
entwickelten Ländern ist eine Auswirkung der Globalisierung. Während die
Fabrik ins Ausland verlagert wird, verbleiben Management und Verwaltung im
eigenen Land. Die Globalisierung wiederum ist die Folge unseres
kapitalistischen Wirtschaftssystems und der damit einher gehenden
Entstehung und Konzentration multinationaler Unternehmen.
Mit dem Abbau von Handelsschranken, dem Verfall von
Telekommunikationstarifen, dem Aufkommen des Internets, der allgemeinen
Anerkennung einer einheitlichen Geschäftssprache (Englisch) und der
enormen Bereitschaft zum Lernen in den Schwellenländern wurde das globale
wirtschaftliche Betätigungsfeld eingeebnet. Doch wesentliche Unterschiede
bleiben bestehen: Der gravierenste ist die Entlohnung der Arbeitnehmer für
eine vergleichbare Tätigkeit. Ein weiterer ist die Bereitschaft in Ländern
wie China, sich als Arbeitnehmer total in den Dienst der Firma zu stellen.
Multinationale Unternehmen werden im Rahmen interner Optimierungsprozesse
immer danach streben, Güter dort zu erstellen, wo die Produktionsfaktoren
preiswert sind. Und sie werden die Güter dort verkaufen wollen, wo die
relativ gesehen höchsten Preise erzielt werden können. Aus dieser
Differenz speist sich grob gesprochen der Profit. Die höchsten Preise für
die Produkte werden dort erzielt, wo die Kaufkraft am höchsten ist. Das
ist derzeit in den USA der Fall, gefolgt von Europa.
Die Verlagerung der Arbeit in die Schwellenländer wird so lange erfolgen,
bis entweder Handelsschranken wieder errichtet werden oder Lebensstandard
und Kaufkraft in den Schwellenländern derart ansteigen, dass die
Unterschiede in der Entlohnung vernachlässigbar sind. Beides ist in den
kommenden Jahren nicht zu erwarten.
An dieser Stelle müssen wir konstatieren, dass der Trend zum Verlust von
Industriearbeitsplätzen in absehbarer Zeit nicht aufzuhalten ist. Der
primäre Sektor (Landwirtschaft) ist auch keine Alternative. Rettet uns der
tertiäre Sektor?
Gerade hier sind die Arbeitslosenzahlen in den vergangenen Jahren rasant
angestiegen. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise ist in erster Linie eine
Krise des Kapitals. Von Arbeitslosigkeit betroffen sind insbesondere
Banken, Versicherungen, Medien, Einzelhandel, Telekommunikation, Software.
Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Jeremy Rifkin konstatiert
denn auch in seinem Buch „Das Ende der Arbeit“: „Wenn in der Vergangenheit
in einem Wirtschaftssektor durch eine technologische Revolution die
Mehrzahl der Arbeitsplätze verloren zu gehen drohte, entstand immer
rechtzeitig ein neuer Sektor, der die überschüssigen Arbeitskräfte
aufnahm. Viele Millionen Menschen, die durch die schnelle Mechanisierung
der Landwirtschaft arbeitslos geworden waren, fanden Unterschlupf in der
aufblühenden Industrie. Als diese von der Automatisierung erfasst wurde,
wanderten die Arbeiter in den schnell wachsenden Dienstleistungsbereich
ab. Heute aber, da alle diese Sektoren neuerlichen Umstrukturierungen und
einer weiteren Automation ausgesetzt sind, gibt es keinen Bereich mehr,
der die Abermillionen Arbeitslosen aufnehmen könnte“ .
Rifkin sieht in der zunehmenden Anwendung technologischer Errungenschaften
(grob gesagt der Ersatz des Menschen durch Maschinen) die große Gefahr und
bezieht sich dabei auf Karl Marx. „Schon Marx vertrat die These, dass
Unternehmer immer bestrebt seien, die Lohnkosten zu senken und die
Produktionsmittel soweit als möglich in ihre Verfügungsgewalt zu bekommen.
Sie ersetzen daher, wo immer möglich, Menschen durch Maschinen. Marx sagte
voraus, dass die wachsende Automatisierung schließlich alle Arbeiter
überflüssig machen würde. Nach Marx’ Theorie graben sich die Unternehmer
aber ihr eigenes Grab, wenn sie fortdauernd menschliche durch maschinelle
Arbeitskraft ersetzen, da auf diese Weise die Arbeiter nicht mehr genügend
Kaufkraft hätten, um sich noch irgendwelche Produkte leisten zu können .
Dieser Prozess schädigt nicht nur die Arbeitnehmer, sondern letztendlich
die Unternehmen selbst. Interne Kostensenkungsmaßnahmen können zwar ein
Unternehmen wettbewerbsfähiger gestalten, nicht jedoch den Umsatz erhöhen.
Es entsteht ein Teufelskreis aus Kostensenkungen, daraus folgenden
Entlassungen, daraus folgenden Kaufkraftverlusten und wiederum daraus
folgenden Kostensenkungen.
Welche Lösung schlägt Rifkin zur Bewältigung dieser Probleme vor? Er sieht
die Menschheit endlich an ihrem Ziel angelangt: Der komplette Ersatz von
Menschen durch Maschinen führt dazu, dass sich die Menschen von den
Zwängen des Marktes befreien und ihre Zeit mit ehrenamtlichen Tätigkeiten
in Non-Profit-Organisationen verbringen.
Diese Vision erscheint in einem
marktwirtschaftlichen System unrealistisch. Das Heer der Menschen, die
keinen Mehrwert (im kapitalistischen Sinne) produzieren, würde dramatisch
ansteigen. Schon heute beträgt die Erwerbsquote in Deutschland ca. 40
Prozent. Sie schwankte in den vergangenen 100 Jahren bemerkenswert
konstant zwischen 40 und 50 Prozent, bezogen auf die ständige
Wohnbevölkerung. Gemäß Rifkin würde diese Quote fallen müssen. Noch
weniger Menschen würden einen volkswirtschaftlich relevanten Mehrwert
produzieren.
Die zweite mögliche Vision ist düsterer: Die gesellschaftlichen Gegensätze
verschärfen sich. Einige wenige Megareiche stehen einem Millionenheer an
Arbeitslosen gegenüber."
Soweit der Ausschnitt aus unserem Buch. Fazit: Die Lösungsmöglichkeiten
sind bescheiden. Den primären Sektor zu stärken, erscheint illusionär, von
einer Bewegung "Back auf den Bauernhof" hat vermutlich noch niemand etwas
gehört. Der Stärkung des sekundären Sektors (Industrieproduktion) kann
nicht gelingen, so lange das Kostenniveau in den Schwellenländern geringer
ist als in den Industrieländern. Das wird noch viele Jahre der Fall sein.
Im Grunde genommen haben die Industrieländer keine andere Chance, als den
tertiären Sektor wieder anzuschieben. Also noch stärkeres Gewicht auf IT,
Banken und McDonalds und hoffen, dass den "Dells" und "Quelles"
dieser Welt nicht allzu viele Firmen folgen. Die Alternative: Weiter
steigende Arbeitslosigkeit. Die Konsequenzen für unser
marktwirtschaftliches und politisches System wären bitter.
Robert Rethfeld
Wellenreiter-Invest
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