30. September 2006
Jahresanfangs-Sentiment als Börsenindikator
Stellen Sie sich vor, es ist die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr.
Sie machen sich Gedanken über das kommende Jahr, u.a. über Ihre eigenen
wirtschaftlichen und finanziellen Erwartungen. Normalerweise schaut der
Mensch positiv in die Zukunft. Es gibt allerdings Faktoren, die den Blick
nach vorn trüben können. Zum Beispiel ist der Optimismus der meisten
Menschen nach einer längeren wirtschaftlichen Schwächephase eingetrübt,
gerade auch zum Ende einer Rezession hin. Nach einer längeren
Aufschwungphase ist die Stimmung hingegen meist so, wie es dem natürlichen
Verhalten entspricht: Es herrscht Hoffnung, dass es so positiv wie in den
Vorjahren weitergehen wird. Um diese Stimmung zu erfassen, haben wir uns
erlaubt, den jeweils ersten durch „Investors Intelligence“ gemeldeten Wert
eines Jahres grafisch darzustellen. Investors Intelligence vermeldet die
Stimmung der US-Börsenbriefschreiber.
Wir oben beschrieben glauben wir, dass dem ersten Wert eines Jahres eine
besondere Bedeutung zukommt. Man erkennt auf dem folgenden Chart, dass die
Hoffnung der Börsenbriefverfasser auf eine breite Erholung des
US-Aktienmarktes in den 70er Jahren kontinuierlich fiel (schwarzer Pfeil).
Zu Beginn des Jahres 1981 waren lediglich 29 Prozent aller Börsenbriefe
bullisch eingestellt. Der lange Bärenmarkt (damals bereits 15 Jahre alt)
hinterließ deutliche Spuren.
Die Stimmung änderte die Richtung und erreichte in den Jahren 1985 und
1986 einen vorläufigen Höhepunkt. Im Jahr darauf erfolgte der Crash.
Dieser ließ die Jahresanfangs-Stimmung in den beiden Folgejahren
beträchtlich absinken. Erst zu Jahresbeginn 1990 überschritt die positive
Stimmung wieder die 50-Prozent-Marke, und schon kam die Rezession von
1990/91. Nach dem schwachen Aktienjahr 1994 war die Stimmung zu Beginn des
Jahres 1995 spürbar nervös. Genau zu jenem Zeitpunkt begann der Endspurt
des Bullenmarktes der 90er Jahre. 1999 und 2000 herrschte eine
hervorragende Jahresanfangsstimmung, und schon ging es an den
Aktienmärkten abwärts (Anf. 2000 bis März 2003).
Und jetzt geschieht das für mich unerklärliche: Die Jahresanfangs-Stimmung
hielt sich trotz eines massiven Einbruchs an den Märkten seither immer
oberhalb der 50-Prozent-Marke (bis auf 2003; knapp darunter). Anfang 2005
wurde ein Rekordwert von 62,9 Prozent markiert. Ein solcher Wert wurde
seit den 70er Jahren nicht mehr erreicht. Auch in diesem Jahr war die
Jahresanfangs-Stimmung der US-Börsenbriefschreiber mit 55,7 Prozent
ausgesprochen positiv.
Der grüne Pfeil auf dem obigen Chart verdeutlicht die Aufwärtsbewegung der
Jahresanfangs-Stimmung seit Ende der 80er Jahre. Stimmungsmäßig ist der
Bullenmarkt der 90er Jahre nicht im Jahr 2000 beendet worden, sondern noch
immer im Gange.
Wer von einem derzeit miesen Sentiment der Anleger spricht, sollte sich
die obige Grafik genau anschauen.
Robert Rethfeld
Wellenreiter-Invest
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