Wochenend-Wellenreiter vom 6. März 2010
20 Prozent Inflation
ist der historische Maßstab
„Inflation zerstört die Demokratie sowie den Glauben an den Staat“, so
Henrik Müller in einem Kommentar, der bei Spiegel Online zu lesen war.
http://tinyurl.com/yhod2gk
Müller weiter: „Doch niemand sollte glauben, die Entwertung des Geldes sei
ein eleganter und schmerzloser Weg, die aktuellen und künftigen
wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Ganz im Gegenteil: Inflation ist kalte
Enteignung. Überraschend. Unfair. Ungerecht.“
Der Autor
wendet sich gegen das Ansinnen einiger US-Amerikanischer Ökonomen, des IWF
sowie des Direktors des Hamburger Weltwirtschaftsinstituts, Thomas
Straubhaar, die geldpolitischen Zügel locker zu lassen. Die Folge wäre ein
Anstieg der Inflationsrate, die eine Verringerung der realen Staatsschuld
mit sich bringen würde.
Inflation ist ungerecht und unfair, aber nicht überraschend. Inflation
deutet sich lange vorher an. Inflation ist das Produkt einer über viele
Jahre darauf ausgerichteten Politik (ob bewusst oder unbewusst). Inflation
ist auch nichts Fremdes: Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs ist
Inflation der ständige Begleiter der Bevölkerung in den Industriestaaten.
Reallohnverluste und die geringe Verzinsung von Sparguthaben gehören schon
jetzt zum „Täglich Brot“ der Bevölkerung. Die „kalte Enteignung“ der
Guthaben läuft seit Jahren.
Es entspricht der historischen Erfahrung, dass Inflation sich langsam
aufbaut, dann beschleunigt und erst dann endet, wenn ein Großteil der
Entschuldung vollzogen ist. Man nehme das Beispiel Zimbabwe. Das ist heute
eine Cash-Ökonomie ohne Schulden. Der US-Dollar hat den Zimbabwe-Dollar
als Währung abgelöst.
Nehmen wir an, Inflation wäre steuerbar. Wie hoch würden Zentralbanker die
Inflationsrate steigen lassen, um eine ausreichende staatliche
Entschuldung zu gewährleisten? Was ist eine ausreichende staatliche
Entschuldung? Wir nehmen an, dass Zentralbanker eine Halbierung der
Verschuldung als ausreichend empfinden würden. Dies entspräche einer
Verschuldung von 30 bis 40 Prozent vom BIP.
Steigt die Inflationsrate fünf Jahre lang jedes Jahr um 10 Prozent, so
verringern sich vorhandene Schulden real betrachtet um knapp 40 Prozent.
Man wäre dem hypothetisch gesetzten Ziel dadurch nahe gekommen.
In diesem Zusammenhang ist ein Blick in die Vergangenheit interessant. Wie
wurde die Entschuldung früher durchgeführt? Für die USA liegt eine lange
Zeitreihe vor.
Dabei scheint der Wert von 20 Prozent eine wichtige Rolle zu spielen. Im
Jahr 1813 wurde eine kurze Periode lang (nicht mehr als ein Jahr) eine
Inflationsrate von 20 Prozent gemessen. Im US-Sezessionskrieg wurde drei
Jahre lang (1862 bis 1864) eine Inflationsrate von 20 bis 25 Prozent
notiert. Ähnliches lässt sich für den Zeitraum von 1917 bis 1920
feststellen: Im Gefolge des ersten Weltkriegs wurden in den USA vier Jahre
lang Inflationsraten zwischen 15 und 20 Prozent notiert. Nach dem zweiten
Weltkrieg bewegte sich die Inflationsrate in den USA zwischen 10 und 15
Prozent (zwischen 1946 und 1948; im April 1947 wurden sogar 20 Prozent
erreicht). Und schließlich kam es in den 70er Jahren zu Inflationsraten im
Bereich von 10 bis 15 Prozent.
Die grünen Linien zeigen, dass es jeweils nach einem Inflationsspike von
20 Prozent zu einer länger andauernden realen Entschuldung kam
(Verschuldung in Prozent vom BIP). Allerdings gibt es eine Ausnahme: Die „Reaganomics“
der 80er Jahre. Damals beschloss die US-Regierung unter Präsident Ronald
Reagan, auf Basis einer Verschuldung von 50 Prozent vom BIP die
US-Wirtschaft mit Steuererleichterungen zu stimulieren. Unter anderem
wurde der Spitzensteuersatz in zwei Schritten von 70 auf 33 Prozent
gesenkt. Die Privatvermögen plusterten sich auf und wurden in den
Aktienmarkt gelenkt (starker Anstieg bis 1987), während die öffentliche
Verschuldung anstieg. Der Erfolg von „Reaganomics“ wird kontrovers
diskutiert. Es dürfte aber unstrittig sein, dass in jener Zeit das
Fundament für die heutige Situation geschaffen wurde: Die öffentliche Hand
türmte hohe Schulden auf, während der Privatsektor lange Jahre ermutigt
wurde, die größte Aktienblase des vergangenen Jahrhunderts - von 1982 bis
2000 - zu befeuern.
Nicht nur in den USA spielte die 20-Prozent-Inflations-Marke eine
besondere Rolle. Brasilien wurde zum BRIC-Staat, nachdem die Inflation –
die noch 2003 bei 20 Prozent lag - gebrochen werden konnte. Auch die
indische Inflationsrate erreichte 1998 ein Hoch von 20 Prozent.
Fazit: Offensichtlich stellt eine Inflationsrate von 20 Prozent über zwei
bis drei Jahre im Hinblick auf eine Staatsentschuldung so etwas wie ein
„historisches Optimum“ dar. Das wirkt jedoch nur dann, wenn der Staat nach
dem Ende der „Power-Inflation“ keine übermäßigen Wohltaten verteilt,
sondern diszipliniert agiert. Die Fehler aus der Reagan-Ära gilt es zu
vermeiden.
Einen Haken hat die Sache: Bei einem starken Inflationsanstieg würden die
Gläubiger einen Ausgleich in Form höherer Zinsen einfordern. Japan wäre
bei einem Anstieg am langen Ende von 2,5 Prozent praktisch pleite,
Großbritannien und die USA würde es bei 6 Prozent erwischen. Deutschland
würde bei einem Zinssatz von 8 Prozent in die Knie gehen.
Staaten sind souverän. Sollten beispielsweise die USA entscheiden, die
Zinsen zu deckeln, können sie dies tun. In den 40er Jahren deckelten die
USA die Zinsen am langen Ende bei 2,5 Prozent. Die Inflation betrug 1946
bis 1948 zwischen 10 und 15 Prozent. Einen Inflationsausgleich gab es
nicht. Staaten können noch mehr: Sie können entscheiden, Staatsschulden
nicht mehr zu bedienen. Man denke an Argentinien in den Jahren 2001/2002.
Während sich Unternehmen stets an Gesetze halten müssen, die das Land, in
dem sie agieren, vorgibt, hat jeder Staat eine eigene Gesetzgebung.
Gesetze lassen sich ändern. Im Rahmen der EU gilt dies zwar nur bedingt,
aber wenn es hart auf hart kommt, dürfte kurzer Prozess gemacht werden.
Seitens der Politik ist der Ärger über die Wetten mit Hilfe von Credit
Default Swaps gegen Griechenland ist groß. Also wird man regulieren. Der
Ärger in der Politik über die Abwertung Griechenlands durch die
Rating-Agenturen ist ebenfalls deutlich zu spüren. Also prüft die EZB die
Einführung einer staatseigenen Rating Agentur. Dazu – so heißt es – müssen
nur 15 bis 20 weitere Stellen bei der EZB geschaffen werden. Die Devise
aus Sicht der Politik heißt: Die Privatwirtschaft soll sich bitteschön aus
elementaren Staatsangelegenheiten heraushalten. Über die Bonität eines
Mitgliedslandes entscheiden wir selbst. Wetten auf Staatspleiten dürften
zukünftig reguliert bzw. eingeschränkt werden.
Es ist klar, dass eine Steuerbarkeit der Inflation durch die Zentralbanken
üblicherweise nicht angenommen werden kann. Ein solches
Entschuldungsexperiment kann schief gehen. Der Zweck dieser Überlegungen
ist es lediglich, einen Weg aufzuzeigen, der historisch bereits mehrfach
praktiziert wurde. Ja, Inflation ist ungerecht. Ja, Inflation ist unfair.
Nein, Inflation kommt nicht überraschend. Ja, Inflation gefährdet
insbesondere abhängig Beschäftigte und die Bezieher von Transfer- bzw.
staatlicher Einkommen (z.B. Beamte, Rentner, Hartz IV-Empfänger).
Ersparnisse werden entwertet. Aber Inflation ist nichts, dem man hilflos
ausgeliefert ist. Die Anlage eines Teils seines Vermögens in Sachwerten
(z.B. in Edelmetallen) steht jedem frei.
Die Alternative zur „Power-Inflation“ ist das, was aktuell in Griechenland
durchgesetzt werden soll: Löhne runter, Pensionen runter, Steuern rauf.
Die Kaufkraft wird abgewürgt, es kommt zur Deflation. Im
Detail sind die Ungerechtigkeiten anders verteilt, aber der Netto-Effekt
dürfte ähnlich sein wie bei einer „Power-Inflation“. Egal, welchen Weg man
wählt: Die „eierlegende Wollmilchsau“ existiert nicht. Es gilt, auf Seiten
der Politik und der Geldpolitik den Anpassungsprozess zu finden, der die
geringsten Schmerzen erzeugt.
Verfolgen Sie die Finanzmärkte in unserer handelstäglich vor Marktbeginn
erscheinenden Frühausgabe.
Robert Rethfeld
Wellenreiter-Invest
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