Der Wellenreiter
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Wochenend-Wellenreiter vom 5. Juni 2010
Die Dominosteine fallen

Die Verschuldungskrise der Staaten rückt von der Peripherie ins Zentrum. Vor einem halben Jahr kamen die ersten Negativ-Meldungen aus Griechenland. Die Renditen für griechische Staatsanleihen begannen anzuziehen. Parallel dazu begann die Spekulation gegen den Euro, nachdem der Euro/Dollar noch Anfang Dezember bei 1,50 seinen Hochpunkt markierte. 

Die Verschuldungsdiskussion, in deren Mittelpunkt im Jahr 2009 noch Länder in geo-graphischer Nähe Großbritanniens (Irland und auch Island) standen, verlagerte sich dank Griechenland in den südeuropäischen Raum. Angelsächsische Medien war dieser Wandel sehr willkommen, lenkte des doch von den eigenen Unzulänglichkeiten ab. Schnell wurden mit Portugal und Italien sowie mit dem früheren Erzfeind Spanien weitere Ziele ausgemacht, gegen die Attacken geritten werden konnten. Die Angst kroch den angel-sächsischen Investoren die Hosenbeine hoch, und man begann, sich  vermehrt gegen Ausfallrisiken abzusichern. Auf den Zug sprangen Spekulanten auf, die als Trendfolger in die Märkte hineingingen und Kasse zu machen versuchten. So kam eins zum anderen.

Cui bono? (Wem nützt es?). Dieses geflügelte Wort wird Cäsar zugeschrieben. Es drückt aus, dass der Verdacht bei einem Verbrechen am ehesten auf denjenigen fällt, der daraus den größten Nutzen zieht. Dahinter steht die Frage nach dem Motiv. Wer hat etwas davon, dass die Renditen in den südeuropäischen Ländern anziehen?

Da gibt es gleich mehrere Profiteure. Die erste Gruppe ist die offensichtlichste, nämlich diejenige der Spekulanten. Aber man sollte die Kirche im Dorf lassen. Selbst wenn der eine oder andere ohne Zweifel von den Bewegungen profitiert hat, so gibt es viele, die mit dem schnellen Auf und Ab – gerade im Fall Griechenlands – auf die Nase gefallen sind.

Viel interessanter ist doch die Betrachtung einiger anderer Gruppierungen bzw. Staaten, die zum Teil miteinander verzahnte Interessen haben. Alle paar Jahre sieht „der ewige Zweite“ Frankreich seine Chance gekommen, wirtschaftlich an den „deutschen Barbaren“ vorbeizuziehen. „La Grande Nation“, die sich als Sieger (von angelsächsischer Gnade) nach dem zweiten Weltkrieg als die große Macht auf dem Kontinent sah, hatte dem Aufstieg Deutschlands und seiner Währung fassungslos zusehen müssen. Die vielen Francs-Abwertungen waren ständige Messerstiche in den Rücken der Nation. Die deutsche Wiedervereinigung drohte Deutschland endgültig zum übermächtigen Herrscher des Kontinents zu machen. Kanzler Kohl wurde von Mitterrand das Zugeständnis abgerungen, die Deutsche Mark abzuschaffen, damit Frankreich im Gegenzug der Wiedervereinigung zustimmt.

Frankreich denkt in Wirtschaftsfragen politischer als Deutschland. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass die an den französischen Eliteschulen ausgebildeten Akademiker durchaus mehr zu einer Karriere in den oberen Ebenen des öffentlichen Dienstes neigen, während die klugen Köpfe Deutschlands eher in die Wirtschaft gehen. Solange das Wirtschaftsgeschehen tatsächlich aus der Wirtschaft heraus bestimmt wurde, war dies ein Vorteil für Deutschland. Jetzt aber, wo die Politik in den Industriestaaten weltweit massiv in die Wirtschaft eingreift, zockt die eloquente politisch-wirtschaftliche Schnittstelle Frankreichs die in diesem Bereich nur tumb besetzten Deutschen gnadenlos ab. Frankreich hält – dank geschickter Personalpolitik – die Fäden in der Hand. Der Franzose Dominique Strauss-Kahn ist IWF-Präsident, und der Franzose Jean-Claude Trichet ist Präsident der Europäischen Zentralbank. Im Hintergrund zieht Nicolas Sarkozy die Fäden. Geschickt macht sich Sarkozy zum Anwalt südeuropäischer Interessen. Der Norden – und dabei insbesondere Deutschland – soll für den angeschlagenen Süden zahlen. So nebenbei werden dabei die französischen Banken, die als Groß-Gläubiger Italiens und Spanien viel zu verlieren haben, gestützt. Sarkozy hat in Euroland jetzt die Führungsrolle übernommen, die er schon immer spielen wollte. Die deutschen Politiker und Bundesbankvertreter schauen hilflos zu.

Frankreich kann auch deshalb eine starke Rolle einnehmen, weil seine Interessen mit denen der USA und Großbritannien in wichtigen Teilen deckungsgleich sind. Die USA und auch Großbritannien sind – in weit höherem Maß als Deutschland – auf niedrige Renditen angewiesen. Es nutzt den Angelsachsen sehr, wenn das Geld in die vermeintlich sicheren Häfen USA und Großbritannien fließt und flieht. Eine Rendite von 3,2 Prozent für 10jährige US-Anleihen ist bei einer öffentlichen Verschuldung von 13 Billionen US-Dollar lächerlich gering. In 2009 war der Verkauf von Staatsanleihen im Wert von 5,3 Billionen US-Dollar nötig, um die Haushalte der Industrieländer in der Balance zu halten. Allein die USA emittierten Anleihen im Wert von 3 Billionen US-Dollar (etwa 60% des weltweiten Staatsanleihen-Ausgabevolumens). Die USA verfügen über einen großen Staubsauger, in den sie die Gläubiger hineinziehen, so wie die Motten vom Licht angezogen werden. Zudem verschafft ein niedriger Eurokurs Investoren aus dem Dollar-Raum (u.a. USA, Golf-Staaten, China) die Möglichkeit, europäische Assets billig aufzuschnappen. Und welches Land in Europa hat die werthaltigsten Sachwerte? Die Frage beantwortet sich von selbst. Ohne den Euro wäre Deutschland stets schwierig zu attackieren gewesen, da die starke D-Mark Deutschland vor den „Heuschrecken“ geschützt hätte. Dieser Schutzmechanismus ist weggefallen. Wir werden bald entsprechende Übernahme-Schlagzeilen in den Medien sehen.

Zudem kommt den Angelsachsen aus einer Ecke Hilfe zugeflogen, die rein zufälligerweise Ungarn als Einfallstor benutzt. Seit Ungarn in der vergangenen Woche erklärt hat, dass das Staatsdefizit viel höher ist als bisher von den Märkten angenommen, sind nicht nur die Renditen in Ungarn gestiegen: Auch die österreichischen Renditen zogen – aufgrund der finanziellen Verwobenheit mit Ungarn - an. Der Anstieg des Zinsspreads zwischen Österreich und Deutschland war die Folge (nächster Chart).

Aus der Südost-Richtung kamen sowohl in der Bankenkrise 1931 als auch in der Welt-Wirtschaftskrise von 1873 entscheidende Negativ-Impulse. Am 9. Mai 1873 kam es zum sogenannten „Wiener Börsenkrach“, denen vier Tage später (am 13. Mai) ein Crash an der damaligen deutschen Leitbörse (Berlin) folgte. Im Gefolge kam es zu zahlreichen Banken-Pleiten. Auch im Jahr 1931 spielte der Monat Mai den Schicksalsmonat: Am 11. Mai 1931 musste die „Österreichische Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe“ - damals die größte Bank Österreichs - ihre Zahlungen einstellen. Diese Pleite erschütterte das Vertrauen in Großbanken. Am 13. Juli 1931 musste die Darmstädter und Nationalbank, eine der vier deutschen Großbanken, ebenfalls ihre Zahlungen einstellen (mehr Börsengeschichte unter www.zeitenwende.ch).

Im Jahr 1989 rollte die Ausreisewelle der DDR-Bürger aus Ungarn auf Österreich zu. Die Durchtrennung des Stacheldrahts an der österreichisch-ungarischen Grenze war ein Wegbereiter für die Wiedervereinigung Deutschlands. Die Dominosteine fielen, Deutschland feierte. 21 Jahre später fallen die Dominosteine erneut. Der ungarische Stein ist gefallen, der österreichische droht umzukippen und droht auch den deutschen Stein in Mitleidenschaft zu ziehen. Die Dominosteine fallen, Deutschland zittert. Ausgleichende Gerechtigkeit?

Auch wenn Staaten wie Frankreich versuchen, sich als Krisengewinnler zu positionieren: In der hochbrisanten aktuellen Situation ist dies ein Spiel mit dem Feuer. Fiele Deutschland, fiele auch Frankreich. Politisches Geschachere ist fehl am Platz. Vielmehr sollte Europa als Einheit auftreten und den Angelsachsen Paroli bieten. Die USA, Großbritannien und Japan sind deutlich anfälliger für steigende Zinsen als beispielsweise Kerneuropa. Es sind auch diejenigen Staaten, die unter einem Zusammenbruch der Finanzwirtschaft am stärksten leiden würden: Die USA und Großbritannien haben ihre industrielle Basis verloren. Ohne den Finanzdistrikt der Londoner City (über den fast 25 Prozent aller internationalen Finanztransaktionen laufen) wäre das BIP Großbritanniens deutlich geringer.

Europa sollte jetzt geschlossen auftreten und sich nicht von den Angelsachsen auseinander dividieren lassen. Dann hat Europa eine große Chance, zu einem späteren Zeitpunkt in dieser Dekade an einem breiten weltwirtschaftlichen Aufschwung zu partizipieren. Auch wenn es derzeit nicht danach aussieht: Der US-Dollar dürfte nach der Phase der Neuordnung als Weltreservewährung ausgedient haben. Der chinesische Yuan dürfte den US-Dollar als Leitwährung ersetzen. Der Euro könnte - genau wie jetzt auch – als „zweite Geige“ fungieren. Deutschland dürfte das Land sein, das – dank starker Realwirtschaft - vom nächsten echten Weltwirtschaftsaufschwung profitieren wird. Der Traum der französischen Eliten, in Europa die Führungsrolle zu übernehmen, dürfte in dem Moment ausgeträumt sein, in dem die Wirtschaft wieder weitgehend unabhängig von der Politik agieren darf.

Verfolgen Sie das Geschehen an den Finanzmärkten in unserer handelstäglich erscheinenden Frühausgabe.

Robert Rethfeld
Wellenreiter-Invest

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