Wellenreiter-Kolumne vom 6. Oktober 2010
Retter und Reaktionäre
Die Konturen einer neuen
politischen und gesellschaftlichen Weltordnung treten immer stärker
hervor. Die amerikanische Tea-Party-Bewegung sieht in Präsident Obama
denjenigen, der den „amerikanischen Traum gestohlen hat“. Die Bewegung ist
stark reaktionär. Reaktionär bedeutet die Forderung nach einer „Einsetzung
in den vorherigen Stand“. Man möchte das Amerika der Gründerväter zurück.
Ich zitiere den US-Analysten
Brian Wesbury: „Die US-Verfassung war entscheidend für den
Freiheitsprozess Amerikas. Die Verfassung etablierte ein neues Land mit
geschützten Eigentumsrechten. Die Unabhängigkeitserklärung trägt das
unabänderbare Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück in
sich. Dort steht auch, dass immer dann, wenn eine Regierung diesen Rechten
gegenüber destruktiv agiert, es das Recht des Volkes ist, die Absichten
der Regierung zu ändern oder eine neue Regierung einzusetzen.“ Aufruf zur
Revolte? Immer mehr Amerikaner fühlen und denken so.
Hayeks Buch „Der Weg zur
Knechtschaft“ ist die Bibel der Tea-Party-Bewegung. Dort begründet Hayek
unter dem Einfluss des zweiten Weltkriegs, warum der Sozialismus -
einschließlich des Nationalsozialismus - zwangsläufig im Widerspruch zu
liberalen Individualrechten und rechtsstaatlichen Prinzipien steht. Der
US-Kongressabgeordnete Ron Paul hat dieses Werk in jungen Jahren
verschlungen, seither ist er ein glühender „Austrian“, ein Verfechter der
österreichischen Schule für Nationalökonomie. Wurde Ron Paul
jahrzehntelang belächelt und von den amerikanischen Medien und
Mitabgeordneten nicht ernst genommen, so steht er seit Beginn der
Finanzkrise im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Bevölkerung liebt ihn,
weil er für das aufrechte und ursprüngliche Amerika steht. Paul stellt
einen Politiker dar, der sich nie hat verbiegen lassen, einer „vom alten
Schrot und Korn“.
Oswald Spengler schreibt in
seinem kurz nach dem ersten Weltkrieg erschienen Hauptwerk „Der Untergang
des Abendlandes“ über die Endphase der Demokratie: „Durch das Geld
vernichtet sich die Demokratie selbst, nachdem das Geld den Geist
vernichtet hat“. Und weiter: „Endlich erwacht eine tiefe Sehnsucht nach
allem, was noch von alten, edlen Traditionen lebt. Man ist der
Geldwirtschaft müde bis zum Ekel. Man hofft auf eine Erlösung irgendwoher,
auf einen echten Ton von Ehre und Ritterlichkeit.“ Spengler sieht in einer
solchen Entwicklung Anzeichen für einen Endkampf zwischen Demokratie und
„Cäsarismus“. Cäsarismus bedeutet die Herrschaft einer charismatischen
Einzelperson, die vom Willen des Volkes getragen wird (Wir hatten so etwas
in Deutschland bekanntermaßen schon). Wir sollten uns jedoch hüten, mit
dem Seitenblick auf das Deutschland der 1930er Jahre die Augen vor den
Entwicklungen in Amerika zu verschließen. Auch in Amerika kam es in den
1930er Jahren zu einer langen Herrschaft einer charismatischen
Einzelperson (Roosevelt), die vom Volk getragen wurde. Es ist sonnenklar,
dass ein Versagen der „Geldwirtschaft“ – um nichts anderes handelt es sich
– Veränderungen auch im „Mindset“ der Bevölkerung nach sich ziehen (wie
schon in den 1930er Jahren).
Ob jetzt Ron Paul oder -
weniger schön - Sara Palin oder jemand drittes zur charismatischen
Einzelperson erhoben wird: Tendenzen in diese Richtung sind vorhanden.
Diese Person bekommt möglicherweise eine vom Volk legitimierte Macht, die
dem Idealbild eine freundlichen Tyrannen gleichkommt. Bei einem
freundlichen Tyrannen würde das Volk einiges erdulden, damit Amerika
wieder in Ordnung kommt. Das Volk würde einer solchen Person – auch deren
Macht wäre durch die amerikanische Verfassung begrenzt – Spielraum geben,
die Werte der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung wiederherzustellen.
In die Lücke, die die gescheiterte Finanzwirtschaft gerissen hat, könnten
die Austrians gehen, wenn sie es denn geschickt anstellen.
Zeigt Amerika als einziges
Land eine Beharrung auf alten Werten? Selbstverständlich nicht. Man
betrachte die Roma-Politik der Franzosen, die Sarrazin-Debatte in
Deutschland oder auch den Widerstand gegen die Umsetzung von Stuttgart 21
(wobei Stuttgart 21 längst für mehr als die Verhinderung eines
Bahnhofsbaus steht). Nicht nur in den USA, sondern auch in Europa wächst
der Wunsch nach Ruhe und Beharrung. Man lässt sich sein Land nicht mehr
kaputtmachen, man konserviert es. Man glaubt weder Bankern noch
Politikern, man nimmt die Sache zunehmend selbst in die Hand. Die Partei
der Grünen steht für den Erhalt der Umwelt, sie steht für
Wertkonservativismus. Der grünen Partei kommt zugute, dass sie schon immer
nach außen diese Werte vertreten hat. Man denke auch an Brasilien, wo eine
grüne Präsidentschaftskandidatin bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen
einen Überraschungserfolg erzielt hat. Ausbeutungen und Zerstörungen im
Amazonasbecken sind vielen Brasilianern ein Dorn im Auge.
Weltweit existiert ein Hang zum Wert-Konservativismus.
In dieser Analyse der
weltweiten Strömungen darf China nicht fehlen. China hat in dieser Phase
einen großen Vorteil. Anders als die schwächelnden Regierungen der
Industriestaaten, die genug mit sich selbst zu tun haben, kann das
bevölkerungsreichste Land der Welt in aller Ruhe seiner Agenda folgen. Da
es in den Augen des Volkes die chinesische Regierung ist, die dem Land
seit zwanzig Jahren unablässig mehr Wohlstand zuführt, lässt man sie als
„freundliche Tyrannen“ gewähren. Erfolg deckt viele Probleme zu, Erfolg
macht selbstbewusst und wer Erfolg hat, strebt nach dem ihm gebührenden
Platz in der Weltordnung. Das war im Falle der USA nach dem zweiten
Weltkrieg nicht anders. Die Agenda der chinesischen Regierung dürfte in
erster Linie einer Absicherungsstrategie folgen. Das bedeutet die
Sicherung des Zugriffs auf Rohstoffe genauso wie die Sicherung von
Arbeitsplätzen. China macht aktuell das, was schon unter dem chinesischen
Admiral und Seefahrer Zheng He Usus war: Handel mit fernen Ländern. Der
legendäre Investor und Spekulant Jim Rogers war dieser Entwicklung voraus:
Er hat von Anfang an viel Wert darauf gelegt, dass seine kleine Tochter
Mandarin lernt.
Zwischenfazit: China kann
derzeit recht einfach die Schwächen nutzen, die sich bei den alten
Industriestaaten auftun. In diesem Zusammenhang könnte die Meldung, dass
Russland darüber nachdenkt, Mitglied der Nato zu werden, einen Sinn
bekommen. Die immer offensichtlicher werdende Größe und Bedeutung Chinas
dürfte Moskau nicht kalt lassen.
Oswald Spengler stellte fest,
dass „der Kredit eines Landes in unserer Kultur auf seiner
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und deren politischer Organisation
beruht.“ „Je schlechter ein Kredit“, so Spengler, „desto höher steht das
Gold“. Mit anderen Worten: Sinkt die Kreditwürdigkeit eines Staates und
gerät deren politische Organisation unter Druck, steigt der Goldpreis in
Landeswährung. Eine solche Entwicklung ist derzeit insbesondere für den
US-Dollar zu beobachten.
Wiegt man die wirtschaftliche
Leistung eines Staates (wie z.B. die USA) in Gold auf, so entsteht der
folgende Chart. Wir stellen das US-BIP in Mrd. Dollar pro Feinunze Gold
dar.
Der Chart zeigt anschaulich
die Entwicklung der Wertigkeit der US-Wirtschaft im Verlaufe der
vergangenen 80 Jahre. Man erkennt, dass die Vereinigten Staaten von
Amerika um das Jahr 2000 herum ihren wirtschaftlichen Höhepunkt
erreichten. Seither hat sich der “Wert“ der USA auf nur noch 31 Prozent
seines 2000er-Wertes reduziert.
Man fragt sich unwillkürlich:
Sind die USA jetzt billig zu haben? Kommt ein Übernahmeangebot der
Chinesen? Man erinnert sich, dass es die Japaner waren, die in den 1980er
Jahren massiv in den amerikanischen Geschäftsimmobilienmarkt investierten.
Die USA sind sicher eine Nummer zu groß, aber immerhin zeigen sich die
Chinesen jetzt als „Retter Griechenlands“ und kaufen deren Staatsanleihen.
Griechenland scheint für die Chinesen preiswert genug geworden zu sein:
Das Land soll als Chinas Brückenkopf nach Europa ausgebaut werden. Wir
sind gespannt, ob und wie sich die eher eigennützige griechische
Mentalität mit einer zumindest erzieherisch auf Gemeinnutz ausgerichteten
chinesischen Mentalität vertragen wird.
Staaten unterscheiden sich
nicht großartig von Unternehmen: Je tiefer der Wert eines Staates/
Unternehmens sinkt, desto eher spüren Wettbewerber oder Finanzinvestoren
die Chance, sich in den Staat/ in das Unternehmen hineinzukaufen oder es
ganz zu übernehmen. Nachhaltige Übernahmegedanken kommen jedoch erst, wenn
die potentiellen Investoren glauben, dass ein Boden gefunden wurde. Dies
erscheint im Falle Griechenlands möglich, im Falle der USA noch nicht. In
solchen Zeiten steigt die Wahrscheinlichkeit der Einflussnahme/ Übernahme
durch Außenstehende.
Es ist ja nicht so,
dass die hohe Staatsverschuldung ein globales Problem ist. Der Anteil der
öffentlichen Verschuldung am BIP liegt in weiten Teilen Südamerikas,
Afrikas, Asiens und auch in Australien und Neuseeland deutlich unter 50
Prozent. Da besteht überhaupt kein Handlungsbedarf. Japan, die USA und
viele europäische Staaten verlieren hingegen derart an Wert, dass sie bald
jedes trojanische Pferd annehmen werden, das man ihnen vor das Holztor
schiebt. Die Griechen haben es bereits getan, obwohl sie es eigentlich
besser wissen müssen: Sie waren es, die das trojanische Pferd – in dessen
Bauch sich griechische Soldaten versteckten - vor die Tore Trojas schoben.
Sie waren es, die Troja mit diesem Trick einnehmen konnten.
Weder Mises noch Hayek haben
den Aufschwung Chinas zu einer wirtschaftlichen Großmacht verfolgen können
bzw. dies in ihren Theorien berücksichtigen können. Da kommt ein
planwirtschaftlich organisierter Staat (allerdings nur mit einer
Staatsquote von 21 Prozent!) und greift massiv ins Wirtschaftsgeschehen
ein. Dieses Land verfügt obendrein durch seine ständigen
Handelsbilanzüberschüsse über Devisenreserven wie kein zweiter Staat auf
der Welt.
China ist durchaus Willens und
in der Lage, den alten Industrienationen unter die Arme zu greifen. Die
chinesischen Devisenreserven betragen 2,5 Billionen US-Dollar, angestiegen
von lediglich 500 Milliarden US-Dollar im Jahr 2004.
Das bedeutet, dass sich die
Handlungsoptionen Chinas in den vergangenen sechs Jahren erheblich
vergrößert haben. China hätte genug Power, seine Währungsreserven in Euro
von aktuell 26 Prozent zu erhöhen und damit den Euro zu stützen. Die
Währungsreserven in Euro könnte man effizient erhöhen, indem man z.B. über
den liquiden Markt der deutschen Staatsanleihen agiert. So kauft man sich
in Europa ein, genauso wie China in erheblichem Maße US-Schuldentitel
gezeichnet hat (China besitzt US-Anleihen im Wert von 850 Mrd. US-Dollar).
Indem man europäischen Staatsanleihen kauft, hält man die Zinsen niedrig.
Man könnte – wenn man es wollte – sein Engagement in US-Staatsanleihen
noch stärker zurückfahren. In diesem Fall wäre Fed-Chef Bernanke genötigt,
über den geplanten Erwerb von US-Anleihen im Wert von 500 Mrd. US-Dollar
hinaus die Druckmaschine noch deutlicher anzuwerfen. Europa hingegen
könnte länger in den Genuss niedriger Zinsen kommen, um so den Zahltag für
die Staatsverschuldung noch ein wenig hinausschieben zu können.
Was sagen uns die
Finanzmärkte? Gold und Silber steigen. Betrachten wir es umgekehrt: Die
Volkswirtschaften der alten Industrienationen verlieren gegenüber Gold und
Silber an Wert. Derzeit lässt sich dies insbesondere von der
amerikanischen Volkswirtschaft behaupten. Die Bewertung Eurolands und der
Schweiz bleibt derzeit gegenüber Gold und Silber neutral. Amerika und
Großbritannien sind die einzigen Länder, die momentan erfolgreich die
Strategie der Währungsabwertung durchsetzen können. Großbritannien dürfte
– bei einer verhältnismäßig hohen Inflationsrate von mehr als 3 Prozent –
noch vor den USA in eine Inflationsspirale geraten. Vorausgesetzt, die
Pfund-Abwertung setzt sich fort. Für Euroland ist eine solche Spirale
derzeit nicht erkennbar.
Fazit: Die
Gesellschaftsordnungen verändern sich. So wie es in der Renaissance
(„Wiedergeburt“) zu einer Rückbesinnung auf die Antike kam und in der
Phase der Restauration (1815 – 1830; direkt nach dem Wiener
Kongress) zu einer Rückbesinnung auf die Zeit vor der französischen
Revolution, so zeichnet sich jetzt erneut der Beginn eines reaktionären,
konservativen, die guten alten Werte beschwörenden Zeitalters ab. Die
Menschen haben die Probleme in der Finanzwirtschaft satt. Wer kann schon
noch das Wort HRE hören? Wie viele Milliarden Euro müssen dort noch
hineingeschoben werden?
Auch wenn es penetrant klingt
und wir bereits in unserem Jahresausblick darauf hingewiesen haben, dass
die zweite Dekade eines Jahrhunderts häufig eine Dekade der Neuordnung war
– wie der Wiener Kongress im Jahr 1814/15 – so wiederholen wir es an
dieser Stelle: Es wird eine politische Lösung des Problems der
Staatsverschuldung geben. Das klingt möglicherweise unspannender als eine
Hyperinflation oder eine große Depression. Die Politiker – und auch die
Völker – wollen weder das eine noch das andere. Es wird ein Punkt kommen,
an dem sie eine völlige Neuordnung der Finanzwirtschaft einfordern werden,
ob im Sinne der Austrians („Free Markets, Free Money, Free Banking“) oder
im Sinne eines mehr an China orientierten Modells, dürfte
Verhandlungssache sein.
Besser man verhandelt jetzt –
noch steht ja z.B. Deutschland vergleichsweise gut da – als später, wenn
nur noch einer die Bedingungen diktiert: China. Es ist die Aufgabe der
Politiker – nicht diejenige der Finanzwirtschaft – dem Lebensstand der
Bevölkerung keinen oder nur einen minimalen Schaden zuzufügen. Auch wenn
wir den Politikern momentan so gut wie gar nichts mehr zutrauen: Eine
echte Alternative zur einer weltweiten Verhandlungslösung unter zu
Hilfenahme von Währungsschnitten und Zwangsentschuldung bzw.
Gläubigerverzicht gibt es nicht. Gesucht wird der Fürst Metternich der
zweiten Dekade des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Verfolgen Sie die Entwicklung der
Finanzmärkte in unserer handelstäglich erscheinenden Frühausgabe.
Robert Rethfeld
Wellenreiter-Invest
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