Wellenreiter-Kolumne vom 11. Juni 2011
Geld außer Kontrolle
Als Mitte der 1990er Jahre das
Internet die PCs eroberte, gelang dies mit einer revolutionären Erfindung
durch Marc Andreessen. Er programmierte den Mosaic-Browser. Aus dem
Mosaic-Browser wurde der Netscape Navigator. Der Börsengang von Netscape
im Jahr 1995 begründete den „Wahnsinn“ der New Economy. Netscape verlor
den Browser-Krieg mit Microsoft („Internet-Explorer“). AOL zahlte 1999 4,2
Mrd. US-Dollar für Netscape. Der Browser ist seit 2003/2004 praktisch
nicht mehr existent.
Im Bereich der Suchmaschinen
kam es zu ähnlichen Entwicklungen. Google ließ im Laufe der Jahre
Unternehmen wie Lycos oder Altavista weit hinter sich. Ähnliches lässt
sich über die Entwicklung sozialer Netzwerke schreiben, wo Facebook
mittlerweile unangefochtener Marktführer ist und in Deutschland StudiVZ
verdrängt hat.
Das Internet schreibt stets
neue Geschichten, es ist ein sehr junges Medium am Beginn seines
Lebenszyklus. Der Netscape-Börsengang fand erst vor 16 Jahren statt.
Weitere unvorhersehbare Entwicklungen warten. Eine dieser Entwicklungen
begann mit der virtuellen Welt „Second Life“. Diese erreichte im Jahr 2007
ihren medialen Hype-Höhepunkt. Seither ist die Zahl der aktiven Konten
zurückgegangen (von 1,7 Mio. „Accounts“ in 2001 auf 1,3 Mio. in 2007). Das
Interessante an dieser Welt: Sie verfügt über eine virtuelle Währung, den
„Linden-Dollar“. Dieser kann in Währungen wie US-Dollar oder Euro
umgetauscht werden. Damit war ein Einfallstor geöffnet, das im Jahr 2009
der japanische Entwickler Satoshi Nakamoto mit seinem Bitcoin-Konzept
nutzte.
http://tinyurl.com/5sqeflh.
Geld ist Zahlungs- bzw.
Tauschmittel und hat eine Wertaufbewahrungsfunktion. Letztere aber nur,
wenn der Wert des entsprechenden Geldes langfristig garantiert ist.
Die Evolution des Geldes verlief über den Tauschhandel, das Naturalgeld,
das Münzgeld, das Papiergeld hin zum digitalen Geld.
Bitcoin ist eine
dezentralisierte, digitale Währung, die über eine Börse erworben werden
kann. Ob Bitcoin das „Google“ der digitalen Währungen werden wird oder ob
es als „Altavista“ endet, bleibt vorerst offen: Die Geschichte ist noch
nicht geschrieben.
Neue Entwicklungen setzen sich
immer dann durch, wenn deren Zeit gekommen ist. Die Zeit ist dann
gekommen, wenn ein bestehendes System das Vertrauen verliert oder sich
schlichtweg als das schwächere, anfälligere System erweist. Es kann keine
zwei Meinungen über den Gesundheitszustand unseres aktuellen Geld- und
Kreditsystems geben.
Noch wird ein System wie
Bitcoin von den Währungshütern nur unterschwellig registriert. Das
Kennzeichen einer jeglichen Revolution ist die kritische Masse. In den
Frühjahrs-Revolutionen Tunesiens und Ägyptens wurde eine kritische
Bevölkerungsmasse aktiv, nicht zuletzt dank des Einsatzes digitaler
sozialer Netzwerke. In Syrien oder Saudi-Arabien war dies (bisher) nicht
der Fall. In Syrien wird Gewalt angewendet, in Saudi-Arabien Geld.
Wenn nun eine digitale Währung
wie Bitcoin den Bereich einer kritischen Masse zu erreichen droht, müssten
sich die Zentralbanken für eine Strategie entscheiden. Die eine wäre die
„Syrien-Strategie" (Bitcoin-Verbot und Bestrafung der Bitcoin-Nutzer). Die
zweite wäre die „Saudi-Arabien-Strategie" (mehr Geld drucken). Die
„Ägypten-Strategie“ wäre der dritte Weg: Man lässt die Dinge laufen, bis
sich eine Währung wie Bitcoin zu einem nicht mehr wegzudenkenden
Zahlungsmittel entwickelt hat: Die kritische Masse wäre erreicht. Bitcoin
würde parallel zum Dollar und zum Euro existieren. Mit dem Fortschreiten
der Schuldenkrise würde das Vertrauen in Dollar, Yen und Euro fallen, das
in Bitcoin mutmaßlich steigen. Die Folge wäre eine weitere Aufwertung von
Bitcoin. Irgendwann würden Euro und Dollar – ähnlich wie der „Netscape
Navigator“ nicht mehr benutzt werden.
Bitcoin ist so anonym wie
Bargeld. Es gäbe keine Bankkonten – und wohl auch keine Banken – mehr.
Transaktionskontrollen wären unmöglich. Damit erhielten die Finanzämter
keinerlei Möglichkeiten, Steuerhinterziehungen als solche zu erkennen.
Dann würde Anarchie herrschen. Da ich mit der Mehrheit der Bevölkerung der
Meinung bin, dass ein - möglichst demokratisches - Staatswesen besser ist
als Anarchie, erscheint es sinnvoll, wenn die Politik Teile der
Bitcoin-Idee für sich adaptieren würde.
Da wäre die Schaffung einer
neuen digitalen Währung, die eine gewisse, für ein geordnetes Staatswesen
notwendige Kontrollfunktion ermöglicht. Da wäre die Idee, dieser neuen
Währung – wie Bitcoin - eine Inflationssperre einzubauen. Da wäre die
Idee, dass sich diese Währung das Vertrauen an der Börse erarbeiten muss.
Würde sich die Vertrauensbildung über mehrere Jahre hinziehen und in einem
jahrelang steigenden Wechselkurs zu Euro, Dollar und Yen ausdrücken, so
könnten die Schulden (die ja auf Euro, Dollar oder Yen lauten) mit der
Zeit gegen null gehen, wenn die genannten Währungen gegen null tendieren.
Fazit: Wir stehen in der
Evolution des Geldes an einer neuen, durch das Internet ermöglichten
Entwicklungsstufe. Die Politiker haben noch die Möglichkeit, diese
Entwicklung zu beeinflussen. Verpassen sie diese Chance, so könnte es
sein, dass digitales Geld wie Bitcoin nicht nur neue Zahlungswege schafft,
sondern unser Staatswesen verändert. Und das nicht nur im positiven Sinne.
Die Gewinner wäre die Early Adopters einer neuen Währung, aber sie tragen
derzeit auch die größten Risiken. Verfolgen Sie die Entwicklung der
Finanzmärkte in unserer handelstäglichen Frühausgabe.
Robert Rethfeld
Wellenreiter-Invest
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