Wellenreiter-Kolumne vom 25. Juni 2011
Der Weg Europas
Auch wenn sich die Geschichte
nicht wiederholt, so existieren doch einige historische Gesetzmäßigkeiten,
die bestimmte Handlungsmuster offenbaren. So fließt das Kapital stets
dahin, wo innerhalb eines sicheren Umfeldes Geld vermehrt werden kann.
Eine weitere historische
Wahrheit besteht darin, dass Hochkulturen im Laufe ihrer
Entwicklungsgeschichte von kleineren Einheiten zu größeren Einheiten
zusammen-wachsen. Ganz am Ende des Prozesses zerfällt die große Einheit
aufgrund innerer und äußerer Einflüsse. Das war bei den Römern so, genauso
wie bei den Griechen oder vorher im Falle der Babylonier. Nur die Ägypter
verfügen über eine einigermaßen kontinuierliche Entwicklungsgeschichte,
aber auch hier kam es zu wellenartigen „Aufs“ und „Abs“ inklusive
langjährigen Fremdherrschaften.
Europa war schon immer eine
der unruhigsten, aber gleichzeitig kreativsten Zonen der Welt. Die
wechselnden Führungsansprüche (Griechen, Römer, Franken, Iberer,
Habsburger, Holländer, Briten, Franzosen, Deutsche, Russen, sogar Schweden
im 30jährigen Krieg) zu Land und zur See haben auf unserem Kontinent stets
zu Friktionen, aber auch zum technischen Fortschritt geführt.
Als das römische Reich
entstand und sich ausdehnte, war es ähnlich. Es gab zwar eine
Fremdherrschaft, aber die Völker an sich existieren weiter und
entwickelten sich weiter. Die Römer wussten ihre „Provinzen“ lange Zeit
durch die Devise „Divide et impera“ (Teile und herrsche) in Schach zu
halten.
Die Europäische Union ist
aufgrund freiwilliger Vereinbarungen entstanden. Ohne den Schrecken des 2.
Weltkriegs wäre eine solche Einigung wohl nicht angefasst worden. Aus der
Vergangenheit ist mir kein Fall bekannt, wo sich Völker freiwillig
zusammen schließen und ohne Zwang wichtige Kompetenzen an eine höhere
Instanz abgeben.
Wenn die Entwicklung hin von
kleineren zu größeren Einheiten in Hochkulturen eine natürliche ist (und
das scheint so zu sein), dann muss man sich fragen, wer der Kern oder die
treibende Kraft hinter der europäischen Einigung ist. Im römischen Reich
war es Rom, im späten antiken Griechenland waren es die Mazedonier unter
Alexander dem Großen.
Es ist zwar müßig, aber doch
interessant zu betrachten, wie die Entwicklung von kleinen zu großen
Einheiten in Europa ohne einen zweiten Weltkrieg ausgesehen hätte.
Deutschland hätte – aufgrund seiner Lage, seiner Größe und seiner
Wirtschaftskraft – eine dominierende Rolle eingenommen. Frankreich wäre
die Nr. 2 auf dem Kontinent geworden und geblieben, hätte aber immer
wieder gegen Deutschland „gestichelt“. Eine solche Entwicklung wäre auch
ohne den 2. Weltkrieg wahrscheinlich gewesen.
Wenn man heute Griechen, Iren,
Portugiesen oder Spanier fragt, wer in Europa das Sagen hat, so wird der
Name Angela Merkel am häufigsten genannt. In diesen Ländern hat man
zunehmend das Gefühl, ein Vasallenstaat Deutschlands zu sein. Die
Bemerkung, Deutschland habe die Ziele des zweiten Weltkriegs 60 Jahre
später auf Umwegen erreicht, fällt häufiger. Der Entzug der Souveränität
bringt die Menschen in Griechenland, Portugal oder Spanien auf die Straße.
Genauso wie der Wunsch Deutschlands, „deutsche Maßstäbe“ an das Verhalten
der genannten Staaten anlegen zu wollen.
Ist Berlin das frühere Rom?
Wie dauerhaft sind die Abhängigkeiten? Sicher ist, dass der Entzug der
Souveränität Wunden hinterlässt, die dazu führen, dass sich der Unwille im
Volk steigert. Hat Berlin seine Rolle bewusst forciert, als es die Agenda
2010 ins Leben rief? Nein. Es ist doch eher so, dass Berlin in die
Führungsrolle gedrängt wurde. Einen politischen Herrschaftsanspruch über
Europa kann man Deutschland nicht nachsagen. Die Deutschen sind viel zu
sehr mit sich und ihrer Atomkraft beschäftigt. Deutschland ist „grünifiziert“
und pazifistisch. Und die Wehrpflicht wurde jüngst abgeschafft.
Genauso wie die Stadt, in der
ich lebe (Oberursel) die benachbarte, aber hoch verschuldete Gemeinde
namens Steinbach nicht einmal mit den Fingerspitzen anfassen würde, so
würde kein Deutscher auf die Idee kommen, Griechenland übernehmen zu
wollen. Insbesondere nicht nach den Erfahrungen, die finanziell bei der
Integration der DDR in die Bundesrepublik gemacht worden sind. Eine
Transferunion will niemand.
Bei den Römern war es übrigens
umgekehrt. Die zogen Geld „(Tribut)“ aus ihren Provinzen heraus.
Die Deutschen wollen den
Führungsanspruch nicht, aber er drängt sich ihnen auf. Merkel will nicht,
aber sie muss. Der „historische Zwang“ des Weges von kleineren zu größeren
Einheiten ist offenbar so stark, dass sich auch eine Bundeskanzlerin nicht
dagegen wehren kann.
Wie also dürfte – wenn die
historische Entwicklung unvermeidbar erscheint – der Weg Europas aussehen?
Es ist nicht wahrscheinlich, dass ein Staat, der einen anderen Staat
finanziell unterstützt, das Kapital ohne Gegenleistung transferiert. Die
Gegenleistung für die gewaltigen Summen, die von West- nach Ostdeutschland
flossen und noch fließen, war die Aufgabe der Souveränität der DDR.
Wahrscheinlich ist eine andere
Entwicklung. Trichet hat sie mit dem Vorschlag eines europäischen
Finanzministeriums vorgezeichnet. Griechenland, Portugal und Irland
dürften einen Großteil ihrer Souveränität auf Dauer verloren haben.
Spanien und Italien dürften bald folgen. Die Souveränität fließt nicht
nach Berlin, sondern nach Brüssel ab. Das ist der Unterschied zu antiken
Rom oder Athen. Brüssel ist der befriedete Punkt, die freiwillig aus der
Taufe gehobene Hauptstadt der europäischen Union. Dies ist ganz im Sinne
Merkels. Wer in Brüssel regiert, ist eine andere Frage. Hier kommen die
Franzosen ins Spiel, die einen politischen Führungsanspruch in der EU
besitzen. Und so kommt es, dass die Rolle der „Führungsmacht“ kleiner ist,
als sie es in früheren Hochkulturen war. Aber sie ist nicht null, sie ist
auch nicht gering, sie ist nur kleiner als üblich.
Also wird Brüssel zunehmend
mehr Souveränität über Europa gewinnen. Auch über Deutschland, denn
Deutschland lässt dies zu. Die Führung eines Staatengebildes erfordert
eine gemeinsame Währung. Diese ist entwicklungshistorisch zu früh
eingeführt worden. Aber über kurz oder lang wäre es - aufgrund der Dynamik
zu größeren Einheiten - sowieso dazu gekommen.
Wie bereits im Buch
Weltsichten - Weitsichten (Erscheinungsjahr 2004) beschrieben, bedeutet
der „Universalstaat“ üblicherweise die letzte Stufe vor dem Zerfall einer
Hochkultur. Ein Universalstaat existiert üblicherweise mehrere hundert
Jahre. Die Finanzkrise scheint als Beschleuniger hin zum Universalstaat zu
wirken.
Die Regierungsform eines
Universalstaates ist „elitär“. Die Demokratie funktioniert in Brüssel
nicht, sie hat nie funktioniert. Europa ist viel zu groß. Noch sind es die
Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten, die die wichtigen Entscheidungen
treffen. Aber mehr und mehr wird die Brüsseler Bürokratie Vorschläge
erarbeiten. Die schon jetzt vorhandenen molochartigen Strukturen in
Brüssel werden sich weiter verfestigen, je mehr Aufgaben nach Brüssel
übertragen werden. Und langsam aber sicher werden sich in Brüssel
Positionen und Personen herausbilden, die de facto die europäischen
Regierungen führen werden. Der Euro ist die Grundlage einer solchen
Konstruktion. Deshalb bleibt er. Auch die Einführung von Eurobonds wäre
eine logische Folge dieser Entwicklung.
Das Leben unter der Ägide
einer stärker werdenden Brüsseler Elite wird eine demokratische
Mitbestimmung mehr und mehr vermissen lassen. Aber ob der Verlust der
aktuellen Art der Demokratie tatsächlich betrauert werden wird, kann man
getrost bezweifeln.
Irgendwann – nach historischem
Vorbild wohl erst in einigen hundert Jahren – wird der Zerfall Europas
einsetzen, so wie das römische Reich einige Jahrhunderte nach Augustus
zerfiel. Bis dahin dürfte sich das politische Leben auf die europäische
Ebene einerseits und auf die kommunale Ebene andererseits konzentrieren.
Die Zwischenebenen Bund und Land dürften an Bedeutung verlieren. Verfolgen
Sie die Entwicklung der Finanzmärkte in unserer handelstäglichen
Frühausgabe.
Das Buch „Weltsichten/Weitsichten“ wird seitens des Finanzbuch-Verlages
neuerdings als E-Book angeboten.
Das Wort „Finanzkrise“ erschien uns schon damals als wichtiger
Schlüsselbegriff. Das Werk ist sieben Jahre alt (die E-Book-Version ist
unverändert).
Da
ich immer mal wieder Nachfragen nach dem Buch negativ beantworten musste,
weise ich hiermit auf die E-Book-Möglichkeit hin:
http://tinyurl.com/62ny79e
Robert Rethfeld
Wellenreiter-Invest
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