Wellenreiter-Kolumne vom 15. Oktober 2011
Riesenräder und Visibilität
Schon immer war die Zukunft düster, oder etwa nicht? Generationen von
Propheten in der Tradition des Nostradamus haben wahlweise das Ende der
Kirche, den Untergang des Westens oder gar das Ende der Welt vorhergesagt.
Und geben wir es zu: Das Wecken dieser Urängste erzeugt in uns Resonanzen.
Gerade jetzt sind wir für solche Aussagen besonders empfänglich, da die
Schuldenkrise seit einigen Jahren um sich greift. Damit meine ich nicht
die Krise selbst, sondern die mediale Aufmerksamkeit, die diesem Thema
zuteil wird. Da sitzen Leute in Talk-Shows, die die Medienmacher vor
einigen Jahren nicht einmal mit der Kneifzange angefasst hätten. Man hätte
sie als Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt. Nostradamus ist
gesellschaftsfähig geworden, die Urängste obsiegen. Zaghafte Versuche, das
Thema auf die Straße zu tragen, sind zu erkennen. Aber es gibt eine
Gegentendenz: Das Thema Schulden- und Finanzkrise hängt denjenigen, die
sich schon länger damit befassen, zum Hals raus.
Befasst man sich näher mit Grundstimmungen, so wird eine zyklische
Eigenschaft von positiven und negativen Stimmungsbildern erkennbar. Im
Vorfeld eines Jahrhundertwechsels steigt der gesellschaftliche Optimismus.
Man denke nur an die Zeit der „New Economy“ (etwa 1995 bis 2000): Alles
war machbar. Gerade in jenen Jahren erschienen Artikel wie: Das Alter der
Menschen wird durchgängig auf 120 Jahre oder mehr steigen. Bill Clinton
rechnete vor: Im Jahr 2010 seien die Vereinigten Staaten schuldenfrei. Ein
amerikanischer Gelehrter erklärte gar den Konjunkturzyklus für tot, er sei
ein „Relikt der Geschichte“. Ein Jahrhundert zuvor beeindruckten die
Weltausstellungen von Paris 1889 (Eiffelturm, Maschinenhalle) und Chicago
1893 (Riesenrad; Geschirrspülmaschine) die Menschenmassen. Das Riesenrad
im Wiener Prater wurde 1897 erbaut. Die Idee des Riesenrades wurde ein
Jahrhundert später erneut aufgenommen (London Eye, 1999).
Den aktuelle Zeitraum empfindet man als Spiegelbild der damaligen Zeit:
Die US-Staatsverschuldung beträgt 15 Billionen US-Dollar. Währungen wie
der Euro hören demnächst - so der mediale Grundtenor - auf zu existieren; eine Währungsreform erscheint
unausweichlich.
Während das Riesenrad für die Lust auf den Blick in die Ferne steht,
beschreiben Banker wie Josef Ackermann die „Visibilität“ derzeit als
eingeschränkt. Genauso geht es den Medien: Aus Angst vor der Zukunft wird
der Blick über den Tellerrand gescheut. Aber Angst ist ein schlechter
Ratgeber.
Nach der Euphorie folgt der Kater. Und so ist es kein Wunder, dass die
ersten 14 bis 15 Jahre eines neuen Jahrhunderts üblicherweise den
Charakter eines Seitwärtsmarktes aufweisen (folgender Chart).
Die ersten 15 Jahre des 19. Jahrhunderts wurden von den Napoleonischen
Kriegen und der territorialen Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress
1815 bestimmt. In den ersten 14 Jahren des 20. Jahrhunderts stiegen die
Spannungen insbesondere auf dem Balkan, aber auch zwischen den großen
europäischen Nationen, so dass - fast zwangsläufig - im Jahr 1914 der
erste Weltkrieg ausbrach. In der ersten 11 Jahren des 21. Jahrhunderts
steht die Finanzkrise im Vordergrund, die insbesondere in Europa ihre
Auswirkungen zeitigt. In unserem Jahresausblick für 2011 postulierten wir
eine Art Wiener Kongress für die Neuordnung der Finanzmärkte. Ob es dazu
kommt, hängt weitgehend vom Handlungsdruck ab, den die Finanzmärkte auf
die Politik ausüben. Einen Rahmen für eine Neuordnung würde die G20
bieten.
Ende September 2011 fand in Wien der "Kongress zur Österreichischen Schule
der Nationalökonomie" statt. Anlässlich einer Abendveranstaltung wurde der
Saal für uns geöffnet, in dem die Tanzveranstaltungen des Wiener
Kongresses durchgeführt wurden
(heute befinden sich dort die Räumlichkeiten der Wiener Capitalbank). „Der
Kongress tanzt“ ist ein geflügeltes Wort aus der damaligen Zeit.
Marschall Blücher
soll die damaligen Verhandlungen mit den Worten charakterisiert haben:
„Der Kongress gleicht einem Jahrmarkt in einer kleinen Stadt, wo jeder
sein Vieh hintreibt, es zu verkaufen und zu vertauschen“.
Genauso würde es sich im Falle der Auflage eines „Wiener
Finanz-Kongresses“ verhalten. Politik ist hauptsächlich die Einigung auf
den kleinsten gemeinsamen Nenner. Das Abschneiden eines größeren Kuchens
bleibt dem Verhandlungsgeschick überlassen.
Angesichts der Klagen über die hohe Verschuldung oder den „Moral Hazard“
der Zentralbanken (z.B. Aufkauf von spanischen bzw. italienischen
Staatsanleihen) sollte man sich an Bert Brecht erinnern: Erst kommt das
Fressen, dann die Moral. Je mehr der Druck der Finanzmärkte auf die
Politik steigt, desto weniger spielt die Moral eine Rolle. Moral wird als
erstes geopfert. Die Fed kauft, die japanische Zentralbank kauft, und auch
die EZB wird im Falle des Falles mehr Anleihen kaufen. Sehr viel mehr.
Man sollte seine Gedanken nicht einengen. Geld ist virtuell. Geld sind
Zahlen auf Bankkonten bzw. einige wenige Papierschnipsel. Geld ist kein
Versprechen. Geld kann in beliebiger Höhe erstellt werden, begrenzt allein
durch den Willen der für die Geldpolitik Verantwortlichen. Demjenigen, der
glaubt, eine Zentralbank könne pleite gehen, sei gesagt: Dies ist zwar
theoretisch denkbar, nicht aber praktisch. Dann werden eben ein paar
Regeln geändert oder es wird eine neue Institution geschaffen, die die EZB
auffängt.
Auch gilt: Es ist das eine, Inflation oder gar Hyperinflation in einzelnen
Staaten zu erzeugen (Zimbabwe, Argentinien, Türkei). Es ist etwas völlig
anderes, eine solche Hyperinflation im gesamten EU-Raum auftreten zu
lassen. Japan ist ein Beispiel dafür, wie selbst eine
50-Prozent-Finanzierung des Staatsbudgets ausschließlich aus der
Neuverschuldung nicht zu hohen Inflationsraten führt.
In unserer Wochenend-Kolumne vom 24. September
http://tinyurl.com/5tefukm
postulierten wir „einen ersten wichtigen Tiefpunkt in zeitlicher Nähe“.
Die US-Indizes markierten ihre Tiefpunkte am 4. Oktober, der DAX konnte am
4. Oktober bereits ein höheres Tief erzielen. Am Abend des 5. Oktober
schrieb ich meinem Geschäftspartner Alexander Hirsekorn die folgende
E-Mail: „Ich habe heute zum ersten Mal das Gefühl, dass der Markt hier
bullish werden könnte. Schau Dir mal an, wie der S&P 500 steigt. Nicht
hektisch, sondern stetig. Bullentrends lassen die Investoren hinein, so
war es heute mittag in den USA. Bei Markteröffnung zwischen 15:30h und
16:00h gab es ein Doppeltief, der bequem zum Einstieg einlud. In
hektischen Phasen zuvor gab es ein Gap up oder ähnliches, man kam nicht
herein. Versorger fallen, Telekoms fallen, Consumer Discretionary fällt
(alles defensive Sektoren). Nasdaq zeigt relative Stärke. Was sein kann:
Die Märkte steigen den „Wall of Worry“ – durchaus langsam, aber
kontinuierlich. Wenn ab 20:00h nicht mehr abverkauft wird, ist dies ein
gutes Zeichen.“
Am 6. Oktober vor Börsenöffnung veränderten wir unsere Markteinschätzung
für die Aktienmärkte von neutral auf bullish. Es war das erste Mal in
2011, dass wir einen „Case“ für eine positive Entwicklung aufbauen
konnten. Damit hält unsere Serie, wonach wir in den vergangenen fünf
Jahren jeden wichtigen unteren Wendepunkt korrekt identifiziert haben.
Unser Late Day Index hilft bei der Beurteilung der Lage an den
Aktienmärkten. Ende September bildete sich gegenüber Mitte August ein
höheres Tief aus.
Die Käufe ab 20:00h signalisierten das Interesse des smarten Geldes am
Wiedereinstieg.
Wie geht es jetzt weiter? Gibt es Anzeichen dafür, dass es sich bei der
aktuellen Rallye lediglich um eine Bärenmarktrallye handelt? Die gibt es.
Auffällig ist das geringe Handelsvolumen im Anstieg. Die Märkte klettern
die Mauer der Angst, ohne dass großartig zugegriffen wird. Wir hatten am
6. Oktober für den S&P 500 einen Zielbereich von 1.250 bis 1.260 Punkten
angegeben. Davon ist der Index noch etwa 30 Punkte entfernt.
Wir sind nach wie vor der Meinung, dass sich die Märkte spätestens im
ersten Halbjahr 2012 nochmals Richtung Süden bewegen werden. Das
August-Tief sollte getestet werden.
Und wenn es so läuft wie in den vergangenen Jahrhunderten, dann sollte der
„Nach-Jahrhundertwende-Pessimismus“ der vergangenen 11 Jahre spätestens
zur Mitte der laufenden Dekade einer optimistischen Grundeinstellung
weichen.
Verfolgen Sie die Entwicklung
der Finanzmärkte in unserer handelstäglichen Frühausgabe.
Robert Rethfeld
Wellenreiter-Invest
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