Wellenreiter-Kolumne vom 22. Oktober 2011
Die Angst im Nacken
Die Angst ist ein Hauptbestimmungsfaktor menschlichen Seins. Angst kann
lähmen, aber auch zu Unfällen, Katastrophen oder – genauso gut - zu
tollkühnen Entwicklungen führen. Man nehme Apple-Gründer Steve Jobs, der
sich – nachdem er das Unternehmen in den 1980er Jahren verlassen musste
und erst Ende der 1990er Jahre zurückkehrte – fortan in einem Krieg mit
der Konkurrenz sah: "Ich werde Android vernichten, weil es ein gestohlenes
Produkt ist. Ich werde einen Atomkrieg dagegen führen" (Spiegel-Online vom
21.11.2011). Jobs wollte nicht noch einmal die Loser-Karte ziehen.
Angst,
nur zweiter Sieger zu sein, bestimmt auch denjenigen, der auf der Autobahn
mit Tempo 250 vorneweg rast, gefolgt von einem ebenso schnellen Fahrzeug,
das dem Vordermann auf der Stoßstange hängt. Der Vordermann hat Angst, die
Führung abgeben zu müssen, der Hintermann hat Angst, den Anschluss zu
verlieren. Viele von uns haben solche Bilder auf der Autobahn gesehen.
Einige der Leser mögen bereits direkte Beteiligte gewesen sein (z.B. der
eine oder andere Investmentbanker, der seinen Bonus in einen Maserati
umsetzte), die meisten von uns sind Beobachter. Auch eine solche Situation
führt zu tollkühnen, allerdings völlig sinnlosen - und andere gefährdenden
- „Leistungen“.
An der Börse spielen Ängste eine große Rolle. Die Kurse steigen, die
Jahresperformance ist mager: Was ist, wenn der - möglicherweise bereits im
Abfahren begriffene - Zug verpasst wird? Nichts wie drauf, sonst sind die
Boni futsch, vielleicht sogar der Job. So oder ähnlich könnten die Profis
aktuell denken.
Sollte man meinen. Doch die Marktteilnehmer sichern sich ab, und zwar mit
Puts. Im 50-Tages-GD (gleitender Durchschnitt) befindet sich der Wert bei
1,20. Aktuell werden – das ist ungewöhnlich - mehr Puts als Calls gekauft.
Einen Durchschnittwert von 1,20 für die vergangenen 50 Tage ist ein
Spitzenwert, der selbst in der Phase der Rezession von Ende 2007 bis Mitte
2009 nicht zu verzeichnen war (obiger Chart). Man kann argumentieren, dass
Absicherungsstrategien im Laufe der vergangenen Jahre ein integraler
Bestandteil des Instrumentariums von Fondsmanagern geworden sind. Nicht
zuletzt deshalb, weil diese Fondsmanager bereits 10 Jahre Seitwärtsmarkt
mit zwei großen Einbrüchen von mehr als 50% zu verzeichnen haben.
Der „Pawlowsche Reflex“ auf eine solche Phase ist die Absicherung. So
müsste man annehmen, dass zum Ende einer langjährigen
Seitwärts-/Abwärtsphase der Absicherungsbedarf am höchsten ist. Ginge es
nach diesem Chart, so müsste ein neuer Bullenmarkt bevorstehen. Denn wie
sollte dieser Absicherungsbedarf noch steigerbar sein?
Auch der folgende Chart zeigt, dass die Fonds-Manager Ängste ausstehen.
Der Stimmungsindex der Nordamerikanischen Fonds-Manager (NAIIM) befindet
sich auf dem niedrigsten Niveau seit der Lehman-Pleite im Herbst 2008 -
auch wenn der Index sich in der vergangenen Woche leicht erholt hat.
Diese Zahlen werden vom deutschen ZEW-Index für Konjunkturaussichten
bestätigt. Auch dieser Index – hier nicht graphisch dargestellt - befindet
sich auf dem niedrigsten Niveau seit dem November 2008.
Befürchtungen allenthalben. Können die Märkte unter diesen Umständen
weiter fallen? Wenn jeder bereits Angst hat, wer verkauft dann noch? Oder
umgekehrt: Wenn die Märkte zu steigen beginnen und jeder vorsichtig
positioniert ist, wie reagieren die Fonds-Manager? Fängt der eine zu
kaufen an, folgen die anderen automatisch. Im „Performance-Race“ möchte
niemand der Verlierer sein.
Charttechnisch steht einer solchen Entwicklung im DAX die Zone von 6.000
bis 6.100 Punkten im Weg. Würde sie überwunden werden, so würde das Rennen
wahrscheinlich beginnen (bzw. fortgesetzt werden). Dann dürfte der Bereich
von 6.800 Punkten das Ziel sein. Der amerikanische Dow Jones Index weist
für das Jahr 2011 bereits jetzt eine positive Performance auf, ein neues
Jahreshoch wäre dann nicht ausgeschlossen. Ein Wort der Vorsicht: Solange
die Widerstandszonen nicht überwunden sind, ist das Betätigen des
Bremspedals nicht verkehrt.
Verfolgen Sie die Entwicklung der Finanzmärkte in unserer handelstäglichen
Frühausgabe.
Robert Rethfeld
Wellenreiter-Invest
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