Wellenreiter-Kolumne vom 31. Juli 2012
Der letzte Kreditgeber
„Einen letzten Kreditgeber sollte es zwar geben, aber man sollte sich
seiner Gegenwart nie sicher sein können. Eile immer zu Hilfe, um unnötige
Deflation zu vermeiden, aber lasse immer offen, ob die Rettung noch
rechtzeitig oder überhaupt noch kommen wird, damit die anderen
Spekulanten, die Banken, Städte und Staaten vorsichtig werden.“
Charles Kindleberger schrieb dies im Jahr 1978 in seinem Buch "Manien,
Paniken, Crashes". Weit vor Rogoff / Reinhart analysierte er die
Geschichte der Finanzkrisen.
Das bedeutet, dass man ein für das Finanzsystem minder bedrohliches
Subjekt fallen lassen kann (wie z.B. Griechenland), um ein Exempel zu
statuieren und die verbliebenen Staaten zu größeren Anstrengungen zu
zwingen. In dem Moment, wo das Finanzsystem jedoch tatsächlich
zusammenzubrechen droht (z.B. durch einen Bankrott Spaniens oder
Italiens), gibt es keine Alternative zum letzten Kreditgeber.
Im Jahr 2008 verfuhr die US-Zentralbank nach dieser Maxime. Sie ließ
Lehman Brothers in den Konkurs laufen, rettete aber systemrelevante
Unternehmen wie den US-Versicherer AIG sowie die Hypothekenfinanzierer
Fannie Mae und Freddie Mac.
Die US-Zentralbank hat in der
Vergangenheit zeitweise die gesamte amerikanische Neuverschuldung
„geschluckt“. Zu Zeiten des „QE 2“ waren dies monatlich 100 Milliarden
US-Dollar. Die Fed lässt keinen Zweifel daran, dass sie mit der
Monetisierung der Staatsverschuldung („Gelddrucken“) fortfahren würde,
sollte sich die Notwendigkeit ergeben. Sie dürfte etwa 12% der
amerikanischen Staatsverschuldung in ihren Büchern haben.
Die britische Zentralbank hat
jüngst ihre dritte QE-Runde gestartet. Sie weist 375 Mrd. Pfund in Form
von britischen Staatsanleihen ihrer Bilanz aus. Die britische
Staatsverschuldung beläuft sich auf 1.038 Mrd. Pfund. Das bedeutet: Der
Bank of England gehören 36% der britischen Staatsverschuldung. Dennoch ist
die britische Inflationsrate von über 5% im Oktober 2011 auf aktuell 2,4%
gefallen.
Auch die japanische
Zentralbank ist als „Lender of last resort“ aktiv. Die Europäische
Zentralbank hat die Rolle des letzten Kreditgebers bisher weitgehend
abgelehnt. Das kann sie nun nicht mehr.
Wir schrieben dazu in unserer
Tagesausgabe vom 10. November 2011: "Die EZB ist die einzige Institution,
die in der Lage ist, den Zusammenbruch des Euro-Systems zu verhindern. Die
Frage ist: Was will Draghi später im Geschichtsbuch über sich lesen? Die
Schlagzeile könnte lauten: „Durch das Nicht-Eingreifen der EZB im Jahr
2011 begann in Europa eine längere Phase wirtschaftlicher und politischer
Instabilität. Der Zusammenbruch des Euro-Systems und das anschließende
Chaos hätten vermieden werden können, wenn die europäische Zentralbank
ihrer Verantwortung als letzter Kreditgeber gerecht geworden wäre. Es ist
kaum vorstellbar, dass sich die EZB als „Totengräber des Euro“ titulieren
lassen möchte. Sie würde sich den Ast absägen, auf dem sie sitzt. Eine
Existenzberechtigung der EZB bestünde dann nicht mehr."
Kindleberger hat auf etwas hingewiesen, was häufig zu schnell unter geht.
Deshalb hier noch einmal: "Eile immer zu Hilfe, um unnötige Deflation zu
vermeiden". Man braucht nur einen Blick auf die Charts zu werfen, um zu
verstehen, dass die Märkte derzeit hart auf der Kippe zu einem
deflationären Szenario stehen.
Der Langfristchart von Kupfer (New York) weist eine mögliche Top-Bildung
auf. Kupfer ist üblicherweise ein guter Inflationsindikator ("Dr. Copper").
Auf dem nachfolgenden Wochenchart ist der Abwärtstrend von Kupfer seit
Anfang 2011 gut zu erkennen. Der 1-Jahres-GD (grüne Linie folgender Chart)
drückt auf den Kupfer-preis.
Nur wenn Kupfer diesen GD
übertreffen kann, könnte ein deflationäres Szenario zunächst vermieden
werden.
Der Blick auf Platin (wichtig
für die Produktion von PKW-Katalysatoren) zeigt ähnlich wie Kupfer an,
dass die Weltwirtschaft bereits seit Monaten die "Deflationskante" reitet.
Da ist nicht viel Platz für falsche Manöver.
Unter diesen Umständen haben
die Zentralbanken wenig Entscheidungsspielraum. Die EZB hat die ihr zur
Verfügung stehenden Möglichkeiten von allen Zentralbanken am wenigsten
genutzt. Sie hat ihre Rolle als "letzter Kreditgeber" kaum ausgefüllt.
Niemand weiß, ob die Angst vor einer Hyperinflation für einen derart
großen Wirtschaftsraum wie die Eurozone berechtigt ist.
Angenommen, der Euro würde
sich vierteln, dann würden die Rohstoffpreise in Euroland um das vierfache
steigen, sofern sie in Dollar gleich bleiben. Dies würde eine starke
Inflation in Euroland bedeuten. Aber meist ist es so, dass bei einem
fallenden Euro auch die Rohstoffpreise in US-Dollar fallen. Dies würde
eine währungsbedingte Inflation in Euroland abfedern.
Der ehemalige Chef-Volkswirt
der EZB - Jürgen Stark – sagte in einem Interview im November vergangenen
Jahres: "Die EZB wird niemals der „Lender of last resort“ sein."
Die Realität sieht anders aus. Die EZB beginnt, die Rolle des "letzten
Kreditgebers" anzunehmen. Es bleibt ihr nichts anders übrig, denn sie
ist schlicht und einfach der letzte Kreditgeber. Damit begibt sich EZB
zunehmend in die Rolle, in der sich die Bank of England, die japanische
Zentralbank oder die amerikanische Federal Reserve bereits befinden. Sie
tut gut daran, diese Rolle nicht zu offensiv zu spielen, gemäß dem
Kindleberger'schen Motto:
"Lasse immer offen, ob die Rettung noch rechtzeitig oder überhaupt noch
kommen wird, damit die anderen Spekulanten, die Banken, Städte und Staaten
vorsichtig werden".
Die Zentralbanken kämpfen in
der Rolle des letzten Kreditgebers gegen die Deflation. Sie müssen dem
Affen Zucker geben, aber nur so viel, dass er nicht in Apathie verfällt.
Die Charts zeigen einen gefährlichen Ritt auf der Deflationskante. Die
Angst vor einer Hyperinflation ist hier und heute hypothetischer Natur.
Und sie ist deutsch. Die Angst vor dem Pakt mit dem Teufel ist ein
Schreckensbild der deutschen Seele ("Faust"). Und Goethes Zauberlehrling
lehrt, dass man in Teufels Küche kommt, wenn man versucht,
Zauberkunststücke durchzuführen, die man nicht beherrscht.
Anderen Nationen sind solche
Bilder zwar nicht fremd. Aber sie haben sich nicht so tief in deren Seele
eingegraben. Die Briten halten es mit Shakespeare's Hamlet: "Sein oder
Nichtsein, das ist hier die Frage". Das britische BIP ist in fünf der
letzten sieben Quartale gefallen.
Verfolgen Sie die Entwicklung
der Finanzmärkte in unserer handelstäglichen Frühausgabe.
Robert Rethfeld
Wellenreiter-Invest
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