Wellenreiter-Kolumne vom 3. Oktober 2012
Wie vor 100 Jahren?
"Wie aber, wenn sich die
Türkei neu definierte? An einem bestimmten Punkt könnte die Türkei es leid
sein, die frustrierende und demütigende Rolle des Bittstellers zu spielen,
der um Aufnahme in den Westen bettelt, und sich auf ihre viel
eindrucksvollere und herausragende historische Rolle als wichtigster
islamischer Gesprächspartner und Antagonist des Westens besinnt. Nachdem
sie in Laizismus und Demokratie das Schlechteste und das Beste des Westens
kennen gelernt hat, mag die Türkei ebenso qualifiziert sein, den Islam zu
führen."
Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, 1996
Der türkische Aktienindex
XU100 legte seit dem Jahr 1999 von 2.000 auf 70.000 Punkte zu. Dieser
Anstieg wird durch den Wertverlust der türkischen Lira um etwa 50 Prozent
nicht wesentlich geschmälert.
Auch wenn das
Bevölkerungswachstum der Türkei an Dynamik verliert: Im Jahr 2040 dürfte
die Türkei die 100-Millionen-Einwohner-Grenze erreichen. Seit diesem Jahr
hat die Einwohnerzahl der Türkei die Einwohnerzahl Deutschlands hinter
sich gelassen (siehe Pfeil folgender Chart).
Aus diesen beiden Grafiken
lässt sich die steigende Bedeutung der Türkei im Weltgefüge ableiten. Mit
Nachbarn wie der Europäischen Union im Westen sowie dem Iran, Irak und
Syrien im Osten kann es für die Türkei nur darum gehen, die eigene Rolle
einer "Mittelmacht" auszubauen. Es erscheint unwahrscheinlich, dass
Saudi-Arabien, Indonesien oder Ägypten die Türkei als "die" Führungsnation
der islamischen Welt akzeptieren werden.
Während die Europäische Union
von inneren Zwistigkeiten geschüttelt wird, hat die Türkei eine
eigenständige, selbstbewusste Rolle gefunden. Diese Rolle lässt sich
interpretieren - auch überinterpretieren. Die Gefahr einer Eskalation in
der Region östlich und südöstlich der Türkei (Stichwörter: Iran, Israel,
Syrien) erscheint real. Im Ernstfall würde die Türkei weder
amerikanischen, russischen oder chinesischen Interessen erfolgreich
Widerstand leisten können.
Geschichtsbücher sind voller
Hinweise auf "Zwangsläufigkeiten" im Hinblick auf Faktoren zur
Kriegsauslösung. So streben industriell erstarkende Staaten (z.B.
Deutschland vor dem ersten Weltkrieg) eine größere Rolle in der
Weltpolitik an. Deutschland galt als Nachzügler der industriellen
Entwicklung des 19. Jahrhunderts, kam dann aber um so stärker auf. Das Maß
aller Dinge war Großbritannien. Anfang des 20. Jahrhunderts war
Deutschland im Begriff, das Empire industriell zu übertrumpfen. Die
Empfindlichkeiten wachsen in einer solchen Situation.
Häufig sind mehrere Faktoren
als Kriegsauslöser verantwortlich. So weiß niemand, wie der Iran reagiert,
sollte die eigene Atomanlage in den Monaten nach der
US-Präsidentschaftswahl durch Israel zerstört werden. Die Israelis rechnen
mit einem regionalen Konflikt und einigen hundert toten Landsleuten. Aber
lassen sich Reaktionen auf derartige Attacken tatsächlich berechnen? Wohl
kaum.
Ein mögliches Positivszenario
wäre dieses: Die durch die starke Abwertung des iranischen Rial ausgelöste
Hyperinflation verändert die Situation. Die Demonstrationen gegen die
aktuelle Staatsführung werden heftiger. Inflation bzw. Hyperinflation
bringen die Bevölkerung gegen die regierenden Politiker auf. Ein
Regierungswechsel im Iran könnte dazu führen, dass die
Wirtschaftssanktionen des Westens gegenüber dem Iran aufgehoben würden.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würde der Iran die
Ölproduktion forcieren, um Devisen ins Land zu bekommen. Dies wiederum
würde den Ölpreis fallen lassen.
Doch was geschieht, wenn es
nicht zu einem Regierungswechsel kommt? Wenn es der iranischen
Staatsführung gelingt, die in der Bevölkerung vorhandene Wut auf die
Amerikaner und Europäer zu kanalisieren, die ja schließlich für die
Wirtschaftssanktionen verantwortlich sind? Und wenn die Bevölkerung diese
Wut im Bauch hat und "on top" die Israelis die Atomanlagen zerstören, was
geschähe dann? Diese Situation könnte Israel mehr kosten als lediglich 500
Menschenleben. Der Iran würde Syrien in den Konflikt hineinziehen, und
schon entstünde ein Flächenbrand, der die Türkei nicht außen vor lassen
würde. Dies ist ein plausibles Negativszenario. Dabei nicht eingerechnet
sind die Komplikationen, die sich auf höherer Ebene zwischen den USA,
Russland und China ergeben würden.
China ist das andere Thema.
Der asiatische Gigant ist in den vergangenen 20 Jahren erwacht. Betrachtet
man die Bedürfnispyramide nach Maslow, so hat China die
Elementarbedürfnisse weitgehend hinter sich gelassen. Die nächsten Stufen
waren die Befriedigung der Bedürfnisse nach Zugehörigkeit (die Aufnahme in
die Welthandelsorganisation erfolgte im Jahr 2001) und nach Wertschätzung.
Letztere ist China in den vergangenen Jahren zur Genüge zuteil geworden.
Politiker fahren dort gern hin und sonnen sich im chinesischen Erfolg.
Gleichzeitig erlebt man auf kommunaler Ebene, wie sehr sich z.B. deutsche
Städte anstrengen, chinesische Unternehmen in ihre Stadtgrenzen zu holen.
Oder eine chinesische Schule zu beherbergen. China ist in, und China ist
stark umworben.
Die letzte Stufe auf der
Bedürfnispyramide nach Maslow ist die Selbstverwirklichung.
Selbstverwirklichung bedeutet, weitgehend das tun zu können, was man sich
schon immer erträumt oder vorgenommen hat. Die Wiederherstellung des
weltpolitischen Machtgefüges, das sich durch die industrielle Revolution
zu Ungunsten Chinas verschoben hatte, ist eines dieser Ziele. Auf dieser
Stufe ist China derzeit aktiv. Dazu gehören ein forcierter Ausbau des
Weltraumprogramms, die militärische Aufrüstung sowie die Sicherung und
Einforderung territorialer Ansprüche.
Staaten wie Japan, die sich
seit über zwanzig Jahren auf dem absteigenden Ast befinden, sind ein
willkommener Gegner für eine größere Machtprobe. Nach dem Ende des zweiten
Weltkrieges nahm man lange an, dass Grenzen in Stein gemeißelt sind. Doch
der Fall der Mauer im Jahr 1989 war der Beweis: Diese statische
Betrachtung war eine Illusion. Grenzen haben sich beständig verändert. Und
sie werden es weiter tun, Völkerrecht hin oder her. Der Einfluss Japans
dürfte in dem Maße weiter zurückgedrängt werden, in dem China
selbstbewusster wird. Der Ausgang des Kampfes um die umstrittenen
Inselgruppen im südchinesischen Meer dürfte ein erstes diesbezügliches
Zeichen setzen.
Blickt man auf die Entwicklung
des Dow Jones Index von 1907 bis 1916, so erinnert die damalige
Entwicklung an die aktuelle Bewegung des Shanghai Composite Index.
Damals wie heute ging einer
schnellen Erholung frühzeitig die Luft aus.
Man kann nur hoffen, dass der
asiatische Gigant mit seiner potentiellen Pulverfass-Rolle
verantwortungsvoll umgeht. Antizipieren Sie die Entwicklung der
Finanzmärkte mit Hilfe unserer handelstäglichen Frühausgabe.
Robert Rethfeld
Wellenreiter-Invest
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