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Panik, und jetzt?
Die Aktienmärkte erholen sich seit dem 23. März. Zuvor erlitt der Dow Jones Index einen historischen, sechswöchigen Einbruch um 37,1 Prozent, der in seiner Größenordnung und Schnelligkeit lediglich mit den Crashes von 1929 und 1987 vergleichbar war. Mittlerweile beträgt das Minus nur noch 19,5 Prozent.
In den Jahren 1929 und 1987 blieben derartig starke Erholungen aus.
Genauso, wie die Aktienmärkte einen großen Einbruch der Wirtschaft antiziert haben, scheinen sie jetzt davon auszugehen, dass die katastrophalen Modellierungen der Wirtschaftsinstitute falsch sind. Neue Hochs in Bitcoin zeigen ein mit Liquidität aufgepäppeltes Finanzmarktumfeld an. Wenn man sieht, wie positiv die Halbleiterwerte oder die großen Tech-Werte agieren, gerät der Glaube an eine Bärenmarktrallye ins Wanken.
Goldminenaktien waren häufig Frühindikatoren für einen Aufschwung gewesen, sie steigen auf neue Verlaufshochs. Kupfer – ebenfalls ein Frühindikator – markiert ein höheres Tief und denkt gar nicht daran, es dem Ölpreis nachzumachen.
Was preisen die Märkte ein? Offenbar sehen sie eine relativ schnelle Erholung der Wirtschaft, möglicherweise ausgehend von China, sich verbreitend über Südkorea, Europa und schließlich den USA. Die Corona-Krise und die damit zusammenhängenden Lockdowns stellen eine schwerwiegende Störung dar (37,1 Prozent Einbruch des Dow Jones Index), aber sie wird offenbar als beherrschbar angesehen. Es wird damit gerechnet, dass die Einkaufsmanagerindizes im März und im April ihre Tiefpunkte erreicht haben. Auch wird das Auftreten einer heftigen zweiten Corona-Welle nicht erwartet.
This time is different
Der Fortschritt der Menschheit im Kampf gegen Infektionskrankheiten über die vergangenen einhundert Jahre ist immens. Etwa die Hälfte alle Todesfälle in den USA waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf Infektionskrankheiten (hauptsächlich Tuberkulose, Grippe, Lungenentzündung, Diphtherie) zurückzuführen (folgender Chart).
Die Spitze vor dem Jahr 1920 ist das Resultat der Pandemie von 1918 („Spanische Grippe“). Eine Pandemie von der Art SARS-Cov-2, mit der wir uns heute herumplagen, wäre vor hundert Jahren ein tragisches, aber erwartbares Ereignis gewesen. Es hätte sich in die Liste der tödlichen Pandemien eingereiht und wäre von der Politik und den Bürgern hingenommen worden, wenn auch nicht klaglos. Schicksal eben.
Nicht so heute, die Welt hat sich verändert. Infektionskrankheiten gehören nicht mehr zu unserem Risikospektrum. Zuletzt stand in Europa und den USA mit AIDS eine Infektionskrankheit in den 1980er Jahren im Mittelpunkt des Bewusstseins. Sie beschäftigte uns jahrelang, jagte Furcht rund um die Welt und schrieb Geschichten für die Ewigkeit wie diejenige von Freddie Mercury. Dennoch verursachte die AIDS-Sterberate in den USA und Europa nur einen geringfügigen statistischen Buckel.
Toleranzgrenzen verändern sich
Im Jahr 1906 kamen 51 Personen im Straßenverkehr des damaligen deutschen Reichsgebiets um, 1936 waren es bereits 8.388. Im Jahr 1970 wurden 21.322 Verkehrstote gezählt. Heute sterben in Deutschland pro Jahr lediglich 3.000 Personen bei einem deutlich höheren Fahrzeugbestand.
Im Straßenverkehr zu sterben, ist im Vergleich zum Jahr 1970 deutlich unwahrscheinlicher geworden. Aber wir empfinden dies anders, unsere Toleranzgrenze ist ebenfalls gesunken. Dies gilt auch für andere Bereiche des Lebens, wie beispielsweise das Risiko, an Hunger zu sterben. Selbst in Pandemiezeiten herrscht – bis auf Kleinigkeiten – eine Vollversorgung für Güter des täglichen Bedarfs. Auch blieben umfangreiche Stromausfälle aus. Handys, Internet und Zoom funktionierten ohne Geschwindigkeitseinbußen.
Die Gesellschaft möchte keine vermehrten Todesfälle, sie möchte nicht zurück in die Steinzeit. Genauso, wie sie frühere Sterberaten im Autoverkehr nicht mehr toleriert, ruft das Risiko einer erhöhten Sterblichkeit im Rahmen einer Pandemie weltweit massive Abwehrreaktionen hervor.
Harte Währung Übersterblichkeit
Die täglichen Fallzahlen, die täglichen Todeszahlen, die Zahl der Infizierten, die Zahl der Tests, die Letalitätsrate des Virus: Diese Zahlen zeigen eine grobe Richtung an und können einen Trend markieren, sind aber nicht genau genug für abschließende Statistiken.
Übersterblichkeit ist hingegen die härteste Währung im Pandemieumfeld. Der Schweregrad der Pandemien der letzten 100 Jahre wurde jeweils durch die Überschusstodeszahl definiert.
Die Glaubwürdigkeit ergibt sich über die schiere Masse. Liegt die Zahl der Verstorbenen - wie in New York von Mitte März bis Mitte April 2020 - um 300 Prozent über der zur selben Jahreszeit normalerweise erwarteten Sterblichkeit, dann ist eine Sterbewelle im Gange, die sich durch normale Gegebenheiten nicht erklären lässt. In Zusammenhang mit Covid-19 Verstorbene sowie diejenigen, die aufgrund der Belastung des Gesundheitssystems starben, liefern eine plausible Erklärung für die Übersterblichkeit.
Die britische Statistikbehörde veröffentlicht einmal pro Woche Zahlen zur Übersterblichkeit in England und Wales. Die New York Times verfolgt die Übersterblichkeit in verschiedenen Ländern und Regionen. Und schließlich zeigt das Projekt für die Beobachtung der Sterblichkeit in Europa - Euromomo.eu - Zahlen für weite Teile Europas an.
Da Euromomo wochengenaue Statistiken angibt, lässt sich ablesen, dass der Hochpunkt der Übersterblichkeit in Italien, Spanien und Frankreich in der 14. Kalenderwoche lag. Die 14. Kalenderwoche endete am 3. April 2020.
Da der durchschnittliche Zeitraum zwischen Infektion und Todeseintritt etwa drei Wochen beträgt, muss der Höhepunkt der Neuinfektionen in der 11. Kalenderwoche (9. bis 15. März) eingetreten sein. Der Lockdown in Italien begann am 11. März, derjenige in Spanien am 14. März, und derjenige Frankreichs am 16. März.
Das passt. Die Wirksamkeit der harten Maßnahmen erscheint vor dem Hintergrund der in den meisten Ländern tiefgreifenden Einschränkungen evident, etwa drei Wochen später erreichte die Sterbewelle ihren Höhepunkt.
Den von Euromomo genannten Ländern ist gemeinsam, dass sich die Übersterblichkeit erfreulicherweise seit Anfang April abbaut – Ausnahme: Großbritannien. Das Land hatte lange gezögert, harte Maßnahmen zu ergreifen. Im Falle von Schweden gilt es noch abzuwarten, da der Rückgang gering erscheint und Euromomo im Nachhinein Korrekturen vornimmt.
Deutschland unauffällig
Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien, Belgien, die Niederlande und Schweden meldeten im März und bis Mitte April deutlich erhöhte wöchentliche Todesfallzahlen im Vergleich zur normalerweise erwarteten Sterblichkeit. In Deutschland (es liegen lediglich Zahlen aus Hessen und Berlin vor), Österreich, Dänemark, Finnland, Estland, Norwegen, Irland, Griechenland und Ungarn sind Auffälligkeiten nicht zu erkennen, die Sterblichkeitsraten bleiben aufgrund eines jeweils stringenten Handelns im Rahmen. Diese Beobachtung deckt sich mit dem, was aus den „offiziellen“ Covid-19-Zahlen der jeweiligen Staaten herauslesbar ist.
Island als Tummelfeld für Forscher
Die Arbeit der isländischen Behörden erscheint beispielhaft. Sie haben weltweit die meisten Tests pro Einwohner durchgeführt. Seit dem Hochpunkt am 5. April (1.096 Infizierte) rutschte die Zahl der bekannten aktiven Fälle auf 210 (24. April). Von den am 24. April durchgeführten 608 Tests fiel lediglich noch 1 Test positiv aus (0,16%). Island wird absehbar in 14 Tagen Covid-19-frei sein. Island meldete 10 offizielle Todesfälle in Zusammenhang mit Covid-19. Da nur noch vier Patienten auf der Intensivstation liegen, ist es gut möglich, dass keine Todesfälle mehr dazukommen. Auch in Island wird keine Übersterblichkeit vorliegen.
Ein abgeschottetes Insel-Umfeld mit 360.000 Einwohnern und mit einer von Beginn an offenen Kommunikation aller relevanten Zahlen kann von Forschern als ein idealer Covicd-19-Experimentierkasten angesehen werden. Der Infektionsweg jeder einzelnen Infektion kann nachvollzogen werden. Genauso kann ein Teil der 18.738 Personen, die inzwischen aus der Quarantäne entlassen worden sind, befragt und auf die Bildung von Antikörpern getestet werden, um beispielsweise Hinweise auf Grundimmunitäten zu erhalten. Sowieso werden durch die Covid-19-Nachforschungen eine Vielzahl neuer Erkenntnisse gewonnen werden, mit deren Hilfe eine Reaktion auf zukünftige Pandemien optimal vorbereitet werden kann.
Am Ende des Tages
Am Ende des Tages werden Wissenschaftler auch für die Sars-CoV-2-Pandemie abschließende Todesfallzahlen bestimmen. Es wird eine Schätzung sein, möglicherweise versehen mit einer Bandbreite wie bei der Spanischen Grippe. Die Zahlen könnten sich wegen des frühzeitigen globalen Lockdowns auf dem Niveau der Pandemien von 1957/58 und 1968 bewegen (laut US-Infektionsschutzbehörde CDC jeweils 1 Mio. Tote weltweit, davon 100.000 in den USA) und eben nicht auf dem Niveau der Spanischen Grippe (geschätzte 17 bis 50 Mio. Opfer weltweit).
Diese Zahlen werden über Wikipedia abrufbar sein und dort in wenigen Jahren zu einem statistischen Hintergrundrauschen abflauen. Eine gewisse Müdigkeit in der Diskussion ist schon jetzt spürbar.
Das Virus sichern
Das Sars-CoV-2-Virus sollte man sicher einlagern, damit es nicht das gleiche Schicksal erleidet wie das H1N1-Influenzavirus der Spanischen Grippe. Das Virus war jahrzehntelang verschwunden, konnte aber 80 Jahre später aus dem Körper einer in ewigem Eis begrabenen Toten isoliert und im Labor wiederbelebt werden.
Mögliche Verläufe
Die Corona-Krise wird dann enden, wenn Covid-19-Impfstoffe zur Verfügung stehen. Da die Finanzmärkte „Diskontiermonster“ sind, werden die Märkte bereits dann positiv beeinflusst, wenn in den kommenden Wochen Impftests an Menschen positiv verlaufen würde und eine entsprechende Zulassung wahrscheinlich wäre. Erste Tests an Menschen werden bereits durchgeführt. Erfolgversprechend könnte ein Tuberkulose-Impfstoff des Max-Planck-Instituts sein. Auch sind Behandlungen mit speziell entwickelten Antikörpern auf einem guten Weg, bereits im Sommer als Zwischenlösung zur Verfügung zu stehen.
Der übliche Verlauf eines Wahljahres könnte eine solche Entwicklung reflektieren (folgender Chart).
Die Impfstoff-Nachrichtenlage würde sich ab dem Frühsommer sukzessive verbessern. Erste Dosen könnten im Spätsommer einsatzbereit sein. Die Zuversicht der Gesellschaft würde zurückkehren, die Wirtschaft würde anspringen, die Airlines würden wieder vermehrt abheben und die Urlaubssaison würde vorsichtig tastend beginnen. Eine mögliche zweite Covid-19-Welle würde unterdrückt werden.
Die Unsicherheiten dieses Pfades sind enorm. Aber anders als zur Zeit der Pandemie von 1918 („Spanische Grippe“) existieren Behandlungsmöglichkeiten in Form von Beatmungsgeräten und vorerst noch experimentellen Medikamenten. Damals wurde die erste Welle wurde so gut wie nicht bemerkt. Die zweite Welle kam unangemeldet und mit Wucht. Sie traf auf eine durch Krieg und Hunger geschwächte Menschheit.
Wie anders ist das heute. Bereits die erste Welle verursachte einen weltweiten Lockdown. Die Forscher identifizierten im Januar die Gensequenz von SARS-Cov-2, ein Heer von Forschern entwickelt schnell wie nie zuvor unterschiedliche Impf- und Behandlungsansätze. Die Menschheit wäre auf eine zweite Welle gut vorbereitet.
Sollten die Entwicklungsansätze allesamt scheitern, dann können wir uns ein Verlaufsmuster wie den Durchschnittsverlauf der auf der Zahl „0“ endenden Jahre im Dekadenzyklus vorstellen.
Tiefpunkte könnten sich Ende Juni und Ende September ergeben. Einem solchen Szenario, in dem die Behandlungs- und Impfstoffentwicklung spürbar nicht vorankommt und die zweite Jahreshälfte deshalb enttäuschend verlaufen wird, billigen wir eine geringere Wahrscheinlichkeit zu. Wahrscheinlicher erscheint uns eine positive Entwicklung im Sinne des zuerst beschriebenen Szenarios (Verlauf Wahljahre).
Unterstützt wird unsere Annahme durch den Umstand, dass die weltweite Industrierezession bereits seit Anfang 2018 im Gange ist. Die Corona-Krise könnte deshalb eher den Beginn des Endes dieser Rezession eingeläutet haben, als dass sie einen Startpunkt für eine völlig neue Rezession darstellt.
Robert Rethfeld
Wellenreiter-Invest
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