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Weniger Spaltung, mehr Themenvielfalt
Wellenreiter-Kolumne vom
05. September 2018
Die Mitte zerbröselt. CDU/CSU und SPD vereinigen nach aktuellen Umfragen weniger als fünfzig Prozent der Wählerstimmen auf sich.
Die beiden früheren Volksparteien zeichneten sich durch eine universelle Integrationskraft aus, ganz so wie die Republikaner und die Demokraten in den USA. Insbesondere die SPD scheint diese Kraft verloren zu haben.
Es heißt: Wahlen werden in der Mitte gewonnen. Ohne diesen Leitsatz überprüft zu haben, ist der Hang der „kleineren“ Parteien sichtbar, ihre Wählerbasis auszuweiten, um in die Mitte zu rücken. Dies ist beispielsweise den Grünen in Baden-Württemberg (32% bei den Landtagswahlen 2016) eindrucksvoll gelungen. Auf der anderen Seite gelingt es der AfD in Sachsen laut aktueller Umfrage, 25 Prozent der Wählerstimmen auf sich zu vereinigen. Diese Polarisierung geht mit einer weite Bevölkerungskreise umfassenden Emotionalisierung einher.
Spaltung
Würde man die Wählerstimmen der Linken und der Grünen unter „links“ zusammenfassen und diejenigen der AfD und der NPD unter „rechts“, so würde die folgende Grafik entstehen.
Man erkennt eine Zersplitterung der Parteienlandschaft, wie sie zuletzt in der Weimarer Republik üblich war.
In einer Kolumne aus dem Jahr 2004 namens „Rechts, Links, Bürgerlich“ warnten wir vor einer Wiederholung der politischen Entwicklung der Weimarer Republik. Im September 1930 wurde wie folgt gewählt.
Die heutige politische Landschaft nähert sich dieser Situation, ohne sie bisher erreicht zu haben.
Die internationale Perspektive
Die Sozialdemokratie muss europaweit Rückschläge verkraften. Ähnliches gilt für die Grünen. Deutschland ist die Hochburg der Grünen in Europa, auch was die Mitgliederzahl angeht. Zuletzt scheiterten die einst so starken österreichischen Grünen an der Vier-Prozent-Hürde. In Luxemburg, Holland, Finnland und Schweden haben grüne Parteien Anteile zwischen 5 und 10 Prozent. In Südeuropa sind grüne Parteien kaum präsent. In Frankreich erreichten die Grünen 4,3% der Stimmen in der Wahl zur Nationalversammlung (2017). Rechten Parteien gelingt hingegen der Sprung in die Mitte der Gesellschaft, ob in Frankreich, Österreich, Italien, Schweden oder Niederlanden mit deutlich zweistelligen Ergebnissen. Von Polen oder Ungarn gar nicht zu reden.
Die lokale Perspektive
Die AfD notiert gemäß aktuellen Umfragen in Sachsen bei 25%, in Thüringen bei 23%, in Mecklenburg-Vorpommern bei 22% und in Sachsen-Anhalt bei 21%. Zum Vergleich: Die entsprechenden Werte der Grünen lauten 7%, 5%, 8% und 6%. Es gibt soziologische Untersuchungen, die aufzeigen, warum Menschen die AfD wählen. Das vergleichsweise magere Einkommen spielt genauso eine Rolle wie die Unfähigkeit von Politikern, Dinge vor Ort zu verbessern. Auch ist die Grenze zu Tschechien und Polen nah.
AfD-Wähler
AfD-Wähler sind zu 60 Prozent männlich (Bundestags-Wahlanalyse 2017 der „Zeit“ mit Daten von infratest, veröffentlicht am 24.09.2017). Rentner wählen eher selten die AfD. Die meisten Stimmen werden in der Altersgruppe der 30-44jährigen eingesammelt. Der überwiegende Bildungsabschluss ist die Mittlere Reife, gefolgt vom Hauptschulabschluss. AfD-Wähler sind hauptsächlich Arbeiter, gefolgt von Selbstständigen. Frauen, Ältere, Abiturienten, Beamte und Angestellte sind Wählerschichten, die die AfD ehr nicht erreicht. Täusche ich mich oder sind das nicht die Wählerschichten, die typischen SPD-Wählern von früher gleichen?
Selbsttest
Jeder kann anhand der oben genannten Wahlanalyse überprüfen, welche Partei er präferieren sollte und das mit seiner tatsächlichen Wahl abgleichen. Kleiner Selbsttest: Ich bin selbstständig (CDU, FDP) und habe Abitur sowie einen Hochschulabschluss (Grüne, FDP). Das muss nicht heißen, dass ich bei der letzten Bundestagswahl eine dieser Parteien gewählt habe, aber es macht es wahrscheinlich. Die Lebenswirklichkeit bestimmt das Wahlverhalten. In diesem Sinne ist keine Wahl wirklich frei, sondern wird durch äußere Umstände bestimmt.
Als politisch aktiver Mensch, der für eine örtliche Bürgergemeinschaft in einem Kommunalparlament sitzt (45 Sitze), habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich die im Parlament vertretenen Parteien durchaus verständigen können. Einmal, als ein AfD-Abgeordneter hetzte und dies unerträglich war, haben wir – gut die Hälfte der Stadtverordneten - den Saal verlassen. Die örtliche Zeitung berichtete darüber. Dies bedeutet nicht das Ende des politischen Betriebes. Unser System ist in rechtstaatliche Formen gegossen, von denen ich keine Angst habe, dass sie nicht mehr funktionieren werden.
Die Presse, die Geschichte und die Großstädte
In anderen europäischen Ländern kann sich die Bevölkerung für eine Begrenzung der Zuwanderung positionieren, ohne als Nazis bezeichnet zu werden. In Deutschland gelingt diese Trennung kaum. Redakteure der Medien versuchen, das Geschehen mit ihrer Weltsicht abzugleichen. Sie gewichten und ordnen, das ist ein Teil ihrer Aufgabe.
Jetzt könnte man hinterfragen, wie hoch der Anteil der Journalisten ist, die sich der SPD, den Grünen oder den Linken zugeneigt sehen. Wahlforscher sagen, dass SPD und Grüne eher in den Großstädten ihre Hochburgen haben.
Hamburg („Wat mutt, dat mutt“) mit seiner traditionell weit ins Bürgertum reichenden SPD (45,6%), den Grünen (12,3%) und den Linken (8,5%) offeriert eine großstädtische und weltoffene Wählerstruktur. Die „Et-hätt-noch-emmer-joot-jejange-Stadt“ Köln (SPD 29,4%, Grüne 19,5%, Linke 7,0%) ist wie Hamburg ein großer Medienstandort mit Kitzcharakter. Beide Städte leiden derzeit in Sachen Fußball, sind aber guter Hoffnung. Ich drücke die Daumen, ernsthaft.
Großstädte sind links, das dürfte weltweit gelten. Beispielsweise befinden sich 47 der 51 Sitze im New Yorker Stadtparlament in den Händen der Demokraten, 4 halten die Republikaner (Mehrheitswahlrecht).
Warum ist dies so? Die geringen Eigentumsquoten bei Wohn- und PKW-Besitz dürften den Unterschied ausmachen. Als Großstadtbewohner ist das Funktionieren der öffentlichen Infrastruktur fast wichtiger als das private Eigentum. Hingegen besitzen CDU- und FDP-Wähler überdurchschnittlich häufig ein eigenes Haus oder ein eigenes Auto. Eigentum kann beschädigt oder gestohlen werden. Der Sicherheitsaspekt kommt also hinzu. Wird hingegen öffentliche Infrastruktur zerstört, hat der Nutzer keinen unmittelbaren finanziellen Schaden. Der Sicherheitsaspekt spielt bei den Befürwortern der Begrenzung der Zuwanderung ebenfalls eine bedeutende Rolle.
Ich behaupte, dass Redakteure Probleme haben, sich von ihrer eigenen Lebenswirklichkeit frei zu machen, wenn sie Texte verfassen. Sie wollen oder sollen es oft auch nicht. Das Hinterfragen der eigenen Positionen in einer Redaktionskonferenz erscheint zwar aufregend, führt aber häufig nicht weiter. Denn das Milieu ändert sich ja nicht. Redakteure, die im Umfeld größerer Medienstandorte leben – wie eben Hamburg oder Köln -, dürften durchaus nicht frei davon sein, ihre eigene Lebenswirklichkeit als maßgeblich wahrzunehmen. Außerhalb des eigenen Milieus kann die Empfindung diejenige einer oberflächlichen oder falschen Berichterstattung sein (Stichwort: „Lügenpresse“).
Menschenjagd
Wie die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) und die Chemnitzer Freie Presse berichten, gab es keine Menschenjagd. Die Berichterstattung war falsch. Es gab vereinzelte Übergriffe. Auch vereinzelte Übergriffe sind absolut nicht hinnehmbar. Wer jedoch Bilder im Kopf der Menschen hervorruft, die sie denken lässt, dass alle Sachsen permanent Jagd auf Ausländer machen würden (Spiegel-Titelbild), der provoziert und manipuliert. Die NZZ hatte die Größe, sich zu korrigieren. Sie wies darauf hin, dass sie in unzutreffender Weise berichtet hat (Kommentar vom 3.9.2018, „Das deutsche Staatsoberhaupt …“)
Weitere Entwicklung
Themen bewegen die Parteien, seltener die Parteien die Themen. Dies gilt auch für das Thema Zuwanderung. Die Vorbehalte gegenüber einem mehr an Migration ist seit dem Jahr 2015 gewachsen, das zeigen alle Umfragen. Laut einer von Statista veröffentlichten Umfrage votiert die Mehrheit der CDU/CSU-Anhänger mittlerweile für eine Begrenzung der Zuwanderung (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/289427/umfrage/umfrage-zu...).
Selbst unter Anhängern der Grünen ist die Quote auf 29 Prozent gestiegen. Meine eigene Position ist diejenige einer Begrenzung der Zuwanderung.
In der Gesamtbevölkerung sind 48 Prozent für eine Begrenzung, 46 Prozent sind dagegen. Auseinandersetzungen im 50/50-Bereich werden hart geführt. Jeder reklamiert die Mehrheit für sich, keiner hat sie. Ich erinnere mich, solche Prozentzahlen im Vorfeld des Brexits gelesen zu haben. Die Briten waren – und sind immer noch – ein geteiltes Volk, was die Mitgliedschaft in der EU angeht. Der Kampf geht und ging an die Substanz.
Der CDU/CSU kommt in der Migrationsfrage eine Schlüsselrolle zu, nicht so sehr der AfD. Viele Unionswähler warten auf Signal aus der Parteispitze. Links von der Union hofft man, dass die Union ihre Politik nicht ändert. Diese Hoffnung wird sich – so schätze ich die Stimmung ein - nicht erfüllen. Angela Merkel entspricht dem Äquivalent einer „Lame Duck“, wie eine schwache Position eines US-Präsidenten kurz vor seiner Abwahl genannt wird. Die Union macht insofern den Unterschied zur Weimarer Republik, als dass ein großes bürgerliches Lager weiterhin existiert. Ich halte es für zu einfach, sich die Zersplitterung der Parteienlandschaft als einen Automatismus vorzustellen, der in den Nationalsozialismus führt.
Die gesellschaftliche Debatte um die Migration wird mit allen Mitteln ausgetragen. Ich fühle mich an die extreme, aufpeitschende Haltung einiger Londoner Zeitungen im Vorfeld des Brexit erinnert und wünsche mir mehr Sachlichkeit und Reflektion.
Genauso, wie die eine Hälfte der Deutschen keine Nazis sind, nur weil sie sich für eine Begrenzung der Zuwanderung aussprechen, ist die andere Hälfte keine Antifa, nur weil sie sich gegen eine Begrenzung wehren. Kippt die Waage beispielsweise auf 60/40 – egal in welche Richtung -, dann sollte das demokratische System damit umgehen können.
Ich habe den Eindruck, dass die Zahl der Parteien gegenüber der Zahl der Themen aufgeholt hat. Im Gegenteil: Wir haben nur noch ein öffentlich diskutiertes Thema (Migration), aber sieben Parteien, die sich darum balgen. Es wäre deutlich besser, wenn sich weniger Parteien um mehr Themen kümmern würden. Sprich, es würde der Mitte gelingen, die Ränder weitgehend aufzusaugen. Nicht die Spaltung, sondern die Konsensfindung sollte im Mittelpunkt stehen.
Extreme bringen Unruhe und Zerrissenheit. In der Mitte ist es ruhiger. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder integrieren die alten Volksparteien Themen, die die Bürger an den Rand drängen, oder Parteien entwickeln sich vom Rand her zu Volksparteien. Den Grünen ist letzteres in Baden-Württemberg gelungen.
Wir hatten schon länger keine Rezession mehr. Die Wirtschaft läuft, die Arbeitslosenquote ist gering, die Steuern sprudeln. Das kann sich ändern, dann haben wir andere Sorgen.
Robert Rethfeld
Wellenreiter-Invest
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