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Wir Babyboomer

Wellenreiter-Kolumne vom 29. Juni 2016

„Die menschliche Lebensdauer betrug in 99,9 Prozent der Zeit, die wir diesen Planet bewohnt haben, 30 Jahre. Jetzt müssen wir innerhalb einer einzigen Generation 100.000 Jahre alte Prägungen unseres Körpers und unserer Kultur überwinden.“

Das Methusalem-Komplott, Frank Schirrmacher, Blessing-Verlag 2004

 

Werden wir Babyboomer die Jungen abwürgen und ihnen jegliche Wahlfreiheit nehmen? Werden wir uns als Rentner in einem permanenten kognitiven Unruhestand bewegen? Sind wir im Jahr 2030 die Verschwörungstheoretiker, die Facebook-Meckerer, die rhetorischen Sprengmeister der Kommentarfunktionen der Süddeutschen, der FAZ, der Welt, des Spiegels, des Focus?

 

Anknüpfungspunkt für diese Recherche ist das unterschiedliche Abstimmungsverhalten der Generationen anlässlich des EU-Referendums in Großbritannien. Der Verbleib in der EU wurde von den Jüngeren favorisiert, die Älteren wollten überwiegend den Brexit. Die Jüngeren werfen den Älteren vor, eine Entscheidung getroffen zu haben, die sie gegen ihren Willen länger ertragen müssen, als die Älteren ihren neuen Status genießen können. Andererseits wird der Jugend die geringe Wahlbeteiligung vorgeworfen.

 

Erste belegbare Altersgruppen-Daten liegen für die Wahl zum 2. Deutschen Reichstag der Weimarer Republik im Jahr 1924 vor. In der Altersgruppe der 20 bis 25jährigen machten 83 Prozent der Männer und 81 Prozent der Frauen von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Zum Vergleich: Bei den 60 bis 65jährigen lag die Wahlbeteiligung der Männer bei 90 Prozent, während sich nur 77 Prozent der Frauen beteiligten. Fünf Jahr zuvor war Frauenwahlrecht eingeführt worden. Während die jüngeren Frauen von ihrem neuen Recht Gebrauch machten, wollte - oder durfte? – dies längst nicht jede ältere Frau.

 

Springen wir in das Jahr 1980. Die damalige Bundestagswahl war für viele Babyboomer die allererste. 79 Prozent der 21 bis 25jährigen gingen wählen, in der Altersgruppe der 60 bis 70jährigen waren es 93 Prozent. Die Differenz betrug 14 Prozentpunkte.

 

Bei der jüngsten Bundestagswahl im Jahr 2013 fingerten nur noch 61 Prozent (21 bis 25 Jahre) beziehungsweise 82 Prozent (60 bis 65 Jahre) der Wahlberechtigten ihre Wahlzettel in die Urnen. Die Differenz zwischen den beiden Altersgruppen vergrößerte sich auf 21 Prozentpunkte. Auch wenn die Wahlmüdigkeit bei den Jungwählern proportional zugenommen hat, so halten sich auch die Älteren deutlich zurück.

 

Die Wahlbeteiligung steigt von Altersgruppe zu Altersgruppe kontinuierlich an, erreicht ihren Scheitel bei den 60 bis 69jährigen und nimmt danach ab. Dieser Erfahrungswert ist historisch belegt und kann jetzt nicht plötzlich den Jungwählern zum Vorwurf gemacht werden. Insbesondere von denen nicht, die als jüngere ebenfalls Nichtwähler waren.

 

Parteistrategen zielen wegen der medialen Aufmerksamkeit auf die Jungwähler, aber das ist eher Symbolik. Sie wissen: Verluste bei den älteren Wählern sind durch Gewinne bei den jüngeren Wählern nicht auszugleichen.

 

Die führt zum zweiten und entscheidenden Punkt. Die Älteren erdrücken die Jüngeren allein durch ihre schiere Masse. Spielen wir dies zunächst für Großbritannien durch. Noch im Jahr 1991 verfügte die Altersgruppe der 20 bis 30jährigen über das größte Gewicht. Dies zeigt die damalige Bevölkerungspyramide.

 


Seither hat sich die Situation deutlich verändert (folgender Chart).

 

Die Babyboomer stiegen in die Alterskohorte der 45- bis 55jährigen auf. Hinzu kommt, dass die Altersgruppe 60+ stärker besetzt ist als zu früheren Zeiten, insbesondere auf der Männerseite. Dieser Trend wird sich fortsetzen. Der Ausgang des Referendums in Großbritannien ist ein klares Indiz für den Einfluss der Veränderung der Alterskohorten auf das reale Leben. Niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte traten die Älteren in einer derart großen Anzahl auf.

 

Und das ist nur der Anfang. Wir blicken nach Deutschland und sehen im Jahr 2030 – in 14 Jahren - eine massive Übermacht der Gruppe der 60 bis 69jährigen, also der Gruppe, bei der die Wahlbeteiligung stets den Bestwert einnimmt.


Nachfolgend ein praktisches Anwendungsbeispiel dieser Konstellation. Nehmen wir fiktiv an, in 14 Jahren findet ein Referendum über die Abschaffung des Euro statt. Nehmen wir weiter an, dass für 90 Prozent der Jüngeren eine Rückkehr zur Deutschen Mark nicht vorstellbar ist. Sie kennen diese Währung nicht mehr, sie wollen den Euro behalten. Hingegen wollen wir Babyboomer – dann 60 bis 69 Jahre alt - die Deutsche Mark zurück. Unerbittlich stehen wir uns gegenüber. Klar wäre: der Euro würde abgeschafft, die DM würde eingeführt werden.

 

Unabhängig von der Position, die der Leser zu diesem Thema einnimmt, müsste er zugeben, dass dadurch eine Situation entstünde, die die Politikverdrossenheit der Jugend weiter in die Höhe treiben würde.

 

„So what“ werden einige Ältere sagen. Wir haben die gleichen demokratischen Rechte wie die Jüngeren. Ja, aber. Die Angelegenheit ist nicht so simpel. Müssen es unsere Kinder akzeptieren, dass ihr politischer Einfluss so gering sein wird wie für keine ihrer Generationen vorher?

 

Frank Schirrmacher hielt „die Vorstellung für ziemlich unrealistisch, wonach die Älteren von morgen auf Grund ihrer hohen Zahl die Jüngeren politisch dominieren werden.“ Stattdessen, so Schirrmacher, „werden wir uns in den Schutz der Jungen begeben. Die Jungen sind weniger, aber sie sind stark: Es sind die Polizisten, die Bankbeamten, die Journalisten, die Ärzte, die Krankenschwestern, die sich gegen uns auflehnen werden, wenn wir wirklich beabsichtigen, mit Hilfe unserer Wählerstimmen uns als ausbeutende Klasse über sie zu erheben.

 

Starken Jungen stehen fitter werdende Ältere gegenüber, das hat Schirrmacher möglicherweise zu wenig bedacht. Nichtsdestotrotz - und vielleicht auch gerade deshalb - wächst das Konfliktpotential.

 

Als Vater möchte ich gewährleistet sehen, dass meine Kinder ihre demokratischen Rechte adäquat ausüben können und eine faire Chance haben, ihre Themen durchzubringen. Im Jahr 2030 wird dies ohne einen Generationenvertrag, in dem Rechte und Pflichten von Älteren und Jüngeren definiert werden, kaum noch möglich sein. Es dürfte klar sein, dass die Politikverdrossenheit der Jüngeren ohne einen Schutzmechanismus zunehmen wird. Ob die Jugend revoltiert? Fünfzig Jahre lang herrschte Ruhe, die „Studentenrevolution“ liegt lange zurück. Eine Ruhephase von einem halben Jahrhundert ist eine lange Zeit.

 

Aber dazu muss es nicht kommen. Ich stelle mir für das Jahr 2030 eine Welt vor, in der wir Babyboomer gelernt haben, uns nicht zu sehr von unseren Ängsten leiten zu lassen. In der wir uns darüber im Klaren sind, dass wir in einer altersprivilegierten Zeit leben, die in der Menschheitsgeschichte bisher nicht existierte. Und in der wir darauf achten, dass wir die Jugend nicht erdrücken.

 

Robert Rethfeld
Wellenreiter-Invest

 


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