Sie sind hier

Skizzierung der Energiewende

Wellenreiter-Kolumne vom 30. Dezember 2021

Die Energiewende steckt voller politischer Absichtserklärungen. Sie wird einerseits bekräftigend enthusiastisch, andererseits skeptisch begleitet. Manchen erscheint der Pfad unklar. Mit dieser Kolumne zum Jahreswechsel 2021/22 möchte ich versuchen, den Weg der Energiewende bis etwa 2030 im Rahmen einer Skizzierung sichtbarer und erfassbarer machen.

 

Wenig Berührung
Ich schätze, dass etwa 80 Prozent der Menschen bisher keinerlei technische Berührungspunkte mit der laufenden Transformationsphase haben. Eine halbe Million zugelassene vollelektrische PKWs, eine Million installierte Wärmepumpen und zwei Millionen Haushalte mit Solarstrom sind für die Mehrheit der Bürger in einem Land mit 83 Millionen Einwohnern wenig greifbar. Es ist nicht leicht, Vertrauen in einen Transformationsprozess zu gewinnen, der für viele noch nicht vorstellbar ist. Allerdings existieren bereits einige hunderttausend Haushalte, für die das Wechselspiel über alle Jahreszeiten aus PV-Produktion, Wärmepumpennutzung, Einspeichern, Ausspeichern und E-Auto-Laden gelebte Realität darstellt.

 

Ideallösung
Die theoretische Akzeptanz und auch die Offenheit gegenüber einer Energiepolitik, die eine Verringerung der Nutzung fossiler Brennstoffe zum Ziel hat ist, ist hoch. Wenn die Menschheit allein durch Sonne und Wind mit der benötigten Energie versorgt werden könnte, wer wollte da noch fossile Brennstoffe nutzen? Es läge eine Ideallösung vor, die auf Sicht der nächsten Jahrtausende Gültigkeit haben könnte.

 

Hohe Investitionen
Aber: Der Kauf oder das Leasing eines E-Autos, die Installation einer Photovoltaik-Anlage, der Einbau eines Stromspeichers oder die Installation einer neuen Heizung bedeutet jeweils eine Investition im fünfstelligen Bereich. Selbst wenn die finanziellen Mittel zur Verfügung stehen, sind die Entscheidungsprozesse vielschichtig. Ohne einen Energieberater geht es kaum. Jede dieser Entscheidungen bedeutet eine Bindung für mehrere Jahre. Entsprechend groß ist die Unsicherheit.

 

Das gab es schon mal
Der intensive Gebrauch fossiler Energien der vergangenen 250 Jahre hätte nur einen kurzen Abschnitt der Geschichte in Anspruch nehmen müssen, nämlich etwa 50 Jahre von 1850 bis 1900. Anfang des 20. Jahrhunderts fuhren Autos überwiegend elektrisch, genauso wie U-Bahnen, die Tram oder Oberleitungs-Busse. Die Elektrifizierung der Eisenbahnen schritt voran. Das damalige E-Auto war in den USA weitgehend ein Stadtauto mit hochwertiger Ausstattung. Es fuhr leise, kostete aber deutlich mehr als ein Benziner.

 

Mit Hilfe des Verbrennungsmotors eroberten die Autos ab etwa 1920 auch das Umland und die ländliche Bevölkerung. Im Verlauf der 1920er Jahre ließen das Bedürfnis nach Reichweite, der damit verbundene Ausbau der Überlandstraßen und die Verbrenner-Massenproduktion das E-Auto verschwinden. Der mobile fossile Umweg beschleunigte sich ab den 1920er Jahren, auch weil sich technische Lösungen im Hinblick auf die Reichweitenproblematik nicht abzeichneten. 100 Jahre später dreht sich der Spieß erneut in Richtung Elektromobilität um.

 

Viel zu wenig
Wie soll die Energiewende funktionieren? Ende 2021 beträgt die installierte Leistung aller PV-Anlagen in Deutschland 50 Gigawatt. Damit werden im Sommer pro Tag etwa 200 bis 300 Gigawattstunden Strom produziert, im Winter zwischen 10 und 50 Gigawattstunden. Diese Zahlen erscheinen abstrakt. Umso wichtiger ist es, dass man sie in Relation zum Verbrauch setzt. Der Nettostromverbrauch (Last) beträgt in Deutschland zwischen 1.300 und 1.600 Gigawattstunden pro Tag (GWh/Tag).

 

Wir sehen: An keinem Tag im Jahr kann die solare Produktion auch nur annähernd den Verbrauch abdecken.

 

Auch die Wind-Produktion schafft dies nicht. Ja, einzelne Spitzen können schon mal 1.000 GWh/Tag produzieren und damit zwei Drittel des Stromverbrauchs decken.

 

Aber die Windspitzen treten unregelmäßig und überwiegend im Winter, Frühling und Herbst auf. Der Sommer wird weitgehend ausgespart.

 

Immerhin ergibt die Kombination von Solar und Wind ein relativ ausgeglichenes Bild über alle Jahreszeiten.

 

Aber die Unregelmäßigkeiten bleiben groß, so lässt sich mit der Ideal-Kombination Sonne/Wind „kein Staat machen“. Fossile Energien wie Braunkohle, Steinkohle und Erdgas sorgen dafür, dass Produktion und Verbrauch nicht voneinander abweichen.


Koalitionsvertrag
Der Blick in den Koalitionsvertrag zeigt, dass die Ampel-Koalition im Jahr 2030 eine solare Kapazität von 200 GW anstrebt. Das ist das Vierfache der aktuell installierten Leistung. Gleichzeitig soll die Offshore-Windkapazität deutlich auf 30 GW steigen (von 7,8 GW im Jahr 2021). Wir nehmen für die Windkraft insgesamt (Onshore- und Offshore) den Faktor 2,25 im Vergleich zum Status Quo an.

 

Im Koalitionsvertrag wird für das Jahr 2030 ein Bruttostromverbrauch von 680 bis 750 Terrawattstunden/Jahr angenommen. Im Jahr 2019 lag er bei 567 TWh. Wenn man den Mittelwert der Spanne im Blick hat, könnte der Stromverbrauch um etwa 25% im Vergleich zum letzten Vor-Corona-Jahr 2019 steigen. Hintergrund ist die verstärkte Nutzung von Power-to-Heat-Strukturen, Wärmepumpen und E-Autos. Dennoch: Längst nicht alle Haushalte werden im Jahr 2030 E-Autos fahren oder Wärmepumpen besitzen. Ein Stromverbrauchsanstieg um 25% im Verlauf der kommenden acht Jahre wäre massiv.

 

2030: Erdgas schließt Winterlücke
Wir springen ins Jahr 2030. Annahmen: Der Stromverbrauch (Last) hat sich um 25% erhöht, die PV-Produktion vervierfacht und die Windproduktion mehr als verdoppelt (Faktor 2,25). Wir ergänzen das Portfolio noch um die Biomasse und das Speicher- und Laufwasser. Deren Kapazitäten werden sich im Vergleich zum Jahr 2020 voraussichtlich wenig verändern.

 

Auch wenn Lücken vorhanden sind: Die erneuerbaren Energien würden insbesondere von März bis November den Bedarf weitgehend abdecken.

 

Eine halb vollzogene Energiewende würde bedeuten, dass für den Restbedarf Erdgas eingebracht wird. Gas- und Gasturbinenkraftwerke lassen sich innerhalb weniger Minuten von null auf Voll-Leistung hochfahren und umgekehrt. Sie würden die Lücken schließen können. Erdgas ist der am wenigsten schädliche fossile Energieträger.

 

Es bliebe die Abhängigkeit von Russland und vom internationalen Preisgefüge. Denn der Börsenstrompreis wird vom am teuersten produzierenden Kraftwerk bestimmt, und das wäre ein Erdgaskraftwerk.

 

Spitzen nutzen
Aber es gibt einen anderen Weg. Denn die Spitzen, die über die Last herausragen, können genutzt werden. Mit ihrer Hilfe können sich Stromspeicher vollsaugen. Das können Pumpspeicher-Kraftwerke sein oder stationäre und mobile Batteriespeicher. Auch mittels Elektrolyse hergestellter Wasserstoff dient als Stromspeicher. Ähnlich wie heute die Erdgasspeicher im Sommer mit Erdgas gefüllt werden, um den Brennstoff für die Versorgung im Winter nutzen zu können, findet die Generierung von Wasserstoff im Frühjahr, Sommer und Herbst und der Verbrauch im Winter statt. Dieses Verfahren ist erst dann sinnvoll einsetzbar, wenn der Stromüberschuss derart hoch ist, dass die bei der Produktion entstehenden Verluste keine große Rolle mehr spielen.

 

März bis November mit permanent hohem Strom-Überschuss
Im Idealfall wird nach dem Jahr 2030 die PV- und Solarproduktion soweit über die Last angehoben, dass von März bis November ein permanent hoher Strom-Überschuss entsteht. Der dann noch für die Stromproduktion im Winter notwendige Wasserstoff wäre leicht unter Einkalkulierung der Wandlungsverluste von März bis November herstellbar (folgender Chart). Wir haben den Chart mit dem Faktor 6 gegenüber heute für Solarstrom und dem Faktor 4 für Wind erstellt.

 

 

Hoher Spread wichtig für Speicher
Die Frage nach den Preisentwicklungen am Energiemarkt stellt sich. Schon im Jahr 2021 war an einzelnen Stunden der Mittagszeit eine Komplettabdeckung des Verbrauchs durch erneuerbare Energien zu beobachten. Der Strompreis sank jedes Mal auf die Negativseite. Mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien wird sich dieser Effekt in den kommenden Jahren verstärken.

 

Der Spread zwischen dem niedrigsten und dem höchsten Strompreis erreichte im Herbst 2021 ungeahnte Höhen. Wir nehmen an, dass diese Spanne hoch bleiben wird. Dieser Zustand ist für den Aufbau und die Verwendung von Speicherlösungen ideal. Bei einem Negativpreis erhält der Speicherbetreiber Geld dafür, dass er den Strom abnimmt, sagen wir 20 Euro/MWh. Gleichzeitig verkauft er den Strom im Winter für sagen wir 300 Euro/MWh. Er bekommt zweimal Geld, einmal für das Einspeichern und einmal für das Ausspeichern. So können nennenswerte Langfristspeicherkapazitäten – insbesondere Wasserstoffspeicher - finanziert und aufgebaut werden. Die Durchschnittskalkulation für den Versorger wird schwieriger. Aber er kann sein Portfolio unter anderem mit Lieferabnahmeverträgen (PPAs) stabilisieren.

 

Der Stromverbrauch wird auch nach dem Jahr 2030 zunehmen, weil sich der Anteil der E-Autos weiterhin erhöhen wird und auch der Beheizung von Gebäuden – Fernwärme, Wärmepumpe – immer mehr ein Stromerzeugungsprozess voranstehen wird. Elektrifizierung der Primärenergie ist das Stichwort. Dieser Prozess wird sich über Dekaden hinziehen. An einem Punkt X wird das, was sinnvoll elektrifiziert werden kann, ausgereizt sein. Der Langstreckenflugverkehr wird ohne synthetische Kraftstoffe wohl nicht auskommen können.

 

Erst der stetige Ausbau von Solar- und Windenergie kann in einigen Jahren einen Zustand der Strom-Überproduktion aus erneuerbaren Energien herstellen. Dies ist die Voraussetzung für den Aufbau von Speicherkapazitäten, der durch einen hohen Börsenstrompreis-Spread unterstützt werden wird. Zunächst werden Kurzfristspeicher (Pumpspeicher, Batterien) effektiv im Frühjahr, Sommer und Herbst Lücken schließen.

 

PV als Basisversorgung von März bis Oktober
Wenn Batteriespeicher bis zum Jahr 2030 auf 50 bis 100 GW Kapazität ausgebaut werden, kann die Solarenergie von März bis Oktober den Part der Basisversorgung, den bisher fossile Kraftwerke innehatten, übernehmen. Nachfolgend eine idealtypische Darstellung, wären die Kurzfristspeicher bereits im Jahr 2021 im Einsatz gewesen.

 

Wasserstoff für den Winter
Die Winterlücke wird zunächst noch durch Erdgas ausgefüllt werden. Ist die Strom-Überproduktion durch erneuerbare Energien derart gewachsen, dass im Frühling, Sommer und Herbst durch Elektrolyse erzeugter Wasserstoff im Winter für die Stromversorgung der Bevölkerung ausreicht, wird Erdgas für die Stromerzeugung durch Wasserstoff verdrängt werden können.

 

Die Windenergie tritt deutlich unregelmäßiger als die Solarenergie in Erscheinung. Sie wird den Part der Basisversorgung nicht ausfüllen können. Das muss sie aber auch nicht. Windenergie ist auf Sicht von ein bis zwei Wochen vorhersehbar. Wenn der Wind weht, werden häufig große Mengen Energie erzeugt. Wasserstoff- und auch Wärmespeicher werden bereitstehen, um die gewaltigen Energien aufzunehmen, die dann die Winterlücke schließen werden.

 

Nicht nur in Deutschland
Der Ausbau der erneuerbaren Energien findet nicht nur in Deutschland statt. Bis zum Jahr 2025 möchte China Batteriespeicher mit einer Leistung von 30 GW installieren. Weltweit könnten 1.000 GW Batteriespeicher bis zum Jahr 2030 errichtet werden, so Bloomberg NEF. Das sind lohnende Investitionen, wenn man berücksichtigt, dass allein Deutschland im Jahr 2021 voraussichtlich Erdgas im Wert von 35 Mrd. Euro importieren wird (1995: 4,5 Mrd. Euro). Davon dürften etwa 18 Mrd. Euro auf Russland und damit auf Gazprom entfallen. Zur Einordnung: Die Errichtung der Erdgaspipeline Nord Stream 2 kostete etwa 8 Mrd. Euro.

 

Weniger CO2, weniger Kapitalabfluss
Eine weitgehende Energie-Autarkie Deutschlands und Europas reduziert den Kapitalabfluss für Energieimporte und sorgt weltweit für einen geringeren CO2-Ausstoß. Zudem wird der Hebel für nervige politische Spiele im Hinblick auf internationale Energielieferungen geringer.

 

Jahresausblick 2022

Der Wellenreiter-Jahresausblick 2022 kann erworben und heruntergeladen werden unter https://www.wellenreiter-invest.de/kauf/jahresausblick-2022

 

Die Preise für Abonnenten und Nicht-Abonnenten betragen unverändert 29 Euro bzw. 49 Euro (bitte für den Kauf ein Login auf unser Website durchführen). Unmittelbar nach dem Kauf wird per E-Mail ein Link verschickt, über den der Jahresausblick (PDF) heruntergeladen werden kann.

 


Testen Sie unsere Frühausgabe.

Ein kostenloses 14-tägiges Schnupper-Abonnement können Sie hier bestellen: Schnupper-Abo bestellen
 


Wochenend-Kolumne abonnieren.

Hier können Sie unsere Wochenend-Kolumne abonnieren. Einfach Ihre E-Mail Adresse eintragen und wir nehmen Sie in unseren Verteiler auf.

Diese erscheint ca. 6 bis 8-mal pro Jahr und wird kostenfrei versendet.


 


Weitere Kolumnen finden Sie im Archiv.